Neurodiversität oder/und klinische Diagnose?

In Anlehnung an: Theunissen, G. (2020). (Hrsg.). Autismus verstehen: Außen- und Innensichten Stuttgart. Kohlhammer (German Edition). Kindle-Version. S. 11.

➨ Auf der einen Seite von Menschen selbst, die im Autistischen-Spektrum sind, deren Ansichten und Interessen vor allem über  Selbsthilfeorganisationen vertreten werden.

Das Autistische-Spektrum wird als Vielfalt autistischer Erlebens-, Denk- und Verhaltensweisen verstanden, die „von Natur aus“ auf anders strukturierte und funktionierende Netzwerke im Gehirn zurückgeführt werden, insofern unterschiedliche individuelle Variationen vorliegen.

Das Autistische-Spektrum ist als gegebene Lebensvariante aus dieser Perspektive für sich genommen keine Störung oder Krankheit.

Ausgehend von dieser Neurodiversität (neurobiologische Unterschiede als menschliche Disposition) gibt es neurotypische Menschen (Menschen ohne Autistisches-Spektrum) und neuroatypische Menschen (Menschen im Autistischen-Spektrum).

➨ Auf der anderen Seite der „klinische Blick“, der auf dem medizinischen Krankheitsmodell basiert.

Diesem medizinischen Krankheitsmodell folgend sind autistische Erlebens-, Denk- und Verhaltensweisen nachweisbare Beschwerden (Symptome) und werden aus klassisch-medizinischer Sicht immer auf nachweisbar körperliche (somatische) Ursachen zurückgeführt.

Insofern werden anders strukturierte und funktionierende Netzwerke im Gehirn primär als neurologische Defekte verstanden, die zu neurobiologischen Defiziten oder Fehlschaltungen führen.

Unterschiedliche Stärken und Besonderheiten der neurobiologischen Defizite und unterschiedliche psychosoziale Einflüsse führen zu individuellen Varianten und damit zur Autismus-Spektrum-Störung.

Unterstützt wird dieser Ansatz auch dadurch, dass Phänomene der Autismus-Spektrum-Störung nicht immer angeboren sein müssen (also „von Natur aus“ bestehen), sondern in Folge von anderen Krankheiten und Störungen, in der Regel des Gehirns, oder zum Beispiel des Stoffwechsels, der auf das Gehirns wirkt, auftreten können.

In der Medizin stellt eine Diagnose die Feststellung einer Krankheit dar. Die Bestimmung der Krankheit, erfolgt in der Regel Leitlinien folgend, die von der WHO (Weltgesundheitsorganisation) als Internationale Klassifikation von Krankheiten (ICD), in dem Fall psychischer Störungen (Kapitel V (F), bezeichnet wird. Diese ICD wird aufgrund wissenschaftlicher Forschung und Erkenntnisse laufend überarbeitet. Derzeit ist es die 10. Version, nach der Krankheiten klassifiziert werden. Die 11. Version ist seit Januar 2022 in Kraft, wird jedoch derzeit noch nicht angewendet.

Mögliche Diskussionsrichtungen:

1. Unstrittig ist bei beiden Perspektiven, dass die Autismus-Spektrum-Störung ursächlich auf „anders“ strukturierte neuronale Netzwerke zurückzuführen ist, was zu einem „anderen Funktionieren“ bezüglich der Informationsverarbeitung führt und in Folge zu einem „anderen“ Erleben, Denken und Verhalten. 

2. Nicht immer lassen sich, auch bei der Autismus-Spektrum-Störung, nachweisbare körperliche (somatische) Ursachen finden, egal ob diese genetischen, morphologischen (die Hirnanatomie betreffend) oder physiologischen (die Hirnfunktionen betreffend) Ursprungs sind. Insofern reicht das rein medizinische Krankheitsmodell nicht aus, das Autistische-Spektrum als Störung zu verstehen.

Die „Trennlinie“ beider Perspektiven wird vor allem durch vielschichtige normative Maßstäbe und Kriterien definiert, die das Verhalten von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung betreffen. Verhalten-, Denk- und Erlebensweisen eines Menschen werden dann als „abnorm“ definiert (Krankheitszuschreibung), wenn sie von erwarteten Normen abweichen.

Oftmals führt diese Krankheitszuschreibung (von außen) zum Gefühl eines Menschen im Autistischen-Spektrum sich „anders zu fühlen“ und führt dann zur Frage, „ob man krank ist“.   

Während dieses Selbstgefühl im jüngeren Alter eher unreflektiert gespürt wird, führt dies, ab dem mittleren und älteren Jugendalter beginnend, in der reflektierten Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt zum Leidensdruck (dem Kranksein). 

3. Bio-psycho-soziales Modell:

Da menschliche Entwicklung ein immerwährender Anpassungsprozess zwischen physiologisch-körperlicher Entwicklung (zum Beispiel Entwicklung des Gehirns und seiner Funktionen) und altersspezifisch-normativen Erwartungen von Anpassungsleistungen ist, ist die entscheidende Frage, die nicht zwangsläufig zur Auflösung dieser beiden Perspektiven führt, aber beide Perspektiven rechtfertigt, die:

wie das Erleben, Denken und Verhalten eines konkreten Menschen im Autistischen-Spektrum die Bewältigung „normativ-alterstypischer“ Anpassungsleistungen ermöglicht oder beeinträchtigt.

Die Störungsqualität kann insofern nicht unwesentlich auch durch Umweltfaktoren (in Familie, Kita, Schule etc.) mitinitiiert werden. 

4. Sozialgesetzliches Modell:

Ist diese Anpassungsleistung durch autismusbedingte Funktionsstörungen beeinträchtigt, dann benötigt es im sozialgesetzlichen (Behinderung) und kassenrechtlichen (Krankheit) Versorgungssystem immer einer klinischen Diagnose.

Erst mit einer Diagnose können (Eingliederungs-) Hilfen bzw. Therapiehilfen jedweder Art und für jedes Entwicklungsalter generiert und organisiert werden.