Autismus-Spektrum-Störung als Störung der Anpassungsfähigkeit

Es werden grundlegend verschiedenste individuelle Varianten von Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen von Menschen im Autistischen-Spektrum angenommen. Man spricht von „Neurodiversität“ (neurobiologische Unterschiede als menschliche Disposition):

Jeder „Autist“ hat seine individuelle Form des Autistischen-Spektrums, …

… was auch meint:

  • Menschen aus dem Autismus-Spektrum sind nicht per se „gestört“.

Riedel, Andreas; Clausen, Jens Jürgen. (2020). Autismus-Spektrum-Störungen bei Erwachsenen. Köln. Psychiatrie-Verlag. (German Edition). Kindle-Version. S. 35.

  • In der jüngeren Literatur wird eine mildere und im klinischen Sinne subsyndromale Variante des Autismus zunehmend unter dem Begriff des „broader autism phenotype“ beforscht. Gemeint ist damit ein autistisches Syndrom, welches qualitativ den autistischen Eigenschaften entspricht, im Hinblick auf den Schweregrad aber die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung nicht rechtfertigt.

Tebartz van Elst, Ludger. (2018). Autismus und ADHS: Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit. Stuttgart. Kohlhammer Verlag. (German Edition). Kindle-Version. Pos.1990.

Man geht insofern grundlegend von einem Autistischen-Spektrum aus, das zur „Störung“ werden kann, nicht immer aber muss.

Im multikategorialen Normverständnis kann die Entwicklungsstörung des Autismus-Spektrums als Normvariante, als Persönlichkeitsstörung oder als „echte“ neuropsychiatrische Krankheit auftreten.

Tebartz v. Elst, L. et al. (Hrsg.) (2022). Autismus, ADHS und Tics: Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit. Stuttgart. Kohlhammer. S. 123. 

Störung und Anpassung

1. Von welchen Faktoren/Einflüssen ist es also abhängig, ob „das Autistische-Spektrum“ eines Menschen zu einer Störung wird?

Die „Modellangebote“ von Krankheit und Gesundheit in der Entwicklung von Menschen sind vielfältig.

Oerter, R. (1999). Modelle klinischer Entwicklungspsychologie. In: R. Oerter, R. et al. (Hrsg.). Klinische Entwicklungspsychologie. Weinheim. Beltz. PVU. S.79 ff.

Der einfachste und verbindende Ausgangspunkt für ein Modell in der klinischen/medizinischen Psychologie und in der Medizin (hier insbesondere Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik) ist das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell, in dem selbstredend vielfältige Faktoren die Entwicklung von Krankheit oder Gesundheit eines Menschen beeinflussen.

Wirtz, M.-A. (Hrsg.). (2021). Dorsch Lexikon der Psychologie, Hogrefe. Bern. S.1039.

Insofern auch im allgemein klinischen Verständnis bei einer möglichen akuten oder wie bei einer Autismus-Spektrum-Störung der persistenten (anhaltenden) Symptombildung von einer Multikausalität auszugehen ist:

Äquifinalität von Symptomen:

  • gleiche Risikofaktoren in der Entwicklung einer Person können zu verschiedenen späteren Störungen führen;

Äquikausalität von Symptomen:

  • verschiedene Ausgangsbedingungen können sich in der gleichen Störung niederschlagen;

…, was zum Konstrukt der Unspezifität von Symptomen führt.

Spangler, G. & Zimmermann, P. (1999). Bindung und Anpassung im Lebenslauf: Erklärungsansätze und empirische Grundlagen für Entwicklungsprognosen. In: R. Oerter & C. v. Hagen. (Hrsg.). Klinische Entwicklungspsychologie. Weinheim. Beltz. PVU. S. 170.

Es gibt nicht DEN Autisten oder DIE Autistin!

Es gibt insofern auch keine „typischen“ Entwicklungsverläufe und eine Vielfalt (Heterogenität) von hoch individuellen Kombinationen autistischer Symptome unter spezifischen Entwicklungsbedingungen oder im Zusammenhang mit der Bewältigung altersdefinierter Entwicklungsaufgaben. 

2. Die Heterogenität von autistischen Symptomen (dem Phänomenbereich; das, was man beobachten und feststellen kann) wird durch vielfältige innere und äußere Risiko- und/oder Schutzfaktoren in der Entwicklung eines Menschen beeinflusst.  

Interne Risiko- oder Schutzfaktoren, die auf eine Störungsentwicklung Einfluss haben, können durch Konzepte der Vulnerabilität (kurz Verletzbarkeit) oder/und Resilienz (kurz Widerstandsfähigkeit) eines Menschen erklärt werden, als Faktoren sind beispielhaft zu nennen: das Intelligenzniveau, exzellente Merkfähigkeit für Details oder die soziale Bedeutung (Beachtung) von individuellen Sonderinteressen (umschriebene altersprogressive Interessen- und Fähigkeitsbereiche zum Beispiel im mathematischen, naturwissenschaftlichen Bereichen).

Resilienz-Vulnerabilitäts-Modelle

Heinrichs, N. & Lohaus, A. (2020). Klinische Entwicklungspsychologie kompakt. Weinheim. Basel. Beltz. PVU. S. 31-34.

Oerter, R. et al. Entwicklungspsychologische Grundlagen. In: J. Hoyer & S. Knappe (Hrsg.). (2021). Klinische Psychologie und Psychotherapie. Weinheim. Beltz. PVU. S. 331-376.

Greve, W. & Leipold, B. Resilienz und Entwicklung. Das Wechselverhältnis von Stabilisierung und Anpassung. In: W.

Schneider & U. Lindenberger (Hrsg.). (2012). Entwicklungspsychologie. Weinheim Basel. Beltz. PVU. S. 575-580

Fingerle, M. (2000). Vulnerabilität. In: J. Borchert (Hrsg.), Handbuch der Sonderpädagogischen Psychologie. Göttingen. Hogrefe. S. 287-293.

Zu den externen Risiko- oder/und Schutzfaktoren sind die formalen und psychosozialen Entwicklungs- und Förderbedingungen in und außerhalb der Familie zu zählen.

Dazu gehören die Qualität und Stabilität sozialer Systeme, zum Beispiel Kommunikationsqualität des Familiensystems oder Förderung in der Familie und/oder die „Menschlichkeit“ und Professionalität der betreuenden Personen jenseits der Familie in den sekundären Sozialisationskontexten wie Kita, Schule, Ausbildung/Studium und Beruf.

Auch die formalen Anforderungs- und Rahmenstrukturen in diesen sekundären Sozialisationskontexten oder den Übergängen (Kita zur Schule usw.) sind von Bedeutung, insbesondere hinsichtlich der Bedingungen von Strukturen, Ordnungen und Unterstützung.     

Das Paradigma der Inklusion erfordert, dass Menschen mit Behinderung in alle Lebensbereiche integriert werden können, gerade auch mit Hilfe einer umfassenden Unterstützung. 

Freese, Ch. (2022). Merkblatt aktuelle Rechtsprechung. Autismus-Spektrum-Störung, Grad der Behinderung (GdB), Merkzeichen, steuerliche) Nachteilsausgleiche. Autismus Deutschland e.V.  S. 5.

Zu den externen Risiko- oder/und Schutzfaktoren zählen auch sozialnormative Zuschreibungen von außen, welches Verhalten eines Menschen mit autistischen Besonderheiten sozialnormativ als abweichend oder als „Krankheit“ betrachtet wird. Dies beeinflusst das eigene Erleben von „Kranksein“ (sich nicht wohlzufühlen, sich anders fühlen, nicht dazu zu gehören) und führt zu subjektivem Leidensdruck. 

Heinz, A. (2014). Der Begriff der psychischen Krankheit. Berlin. Suhrkamp. (German Edition). Kindle Version. Pos. 320 ff.

Vogeley, K. (2016). Anders sein. Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter. Weinheim. Beltz. (German Edition). Kindle-Version. S. 122 f.

3. Das Konzept der Passung erweitert die klinische Perspektive von der Betrachtung einzelner Krankheitsbilder zur Beachtung gemeinsamer Bedingungen allgemeinen Krankwerdens. Sie lenkt unseren Blick auf die soziale Situation von Patienten, auf die Qualität ihrer Beziehung, die Qualität des Zusammenwirkens von Organismus und Umwelt.  

Köhle, K. (2017). Psychologische Grundlagen der Anpassung und ihre Entwicklung – eine Einführung. In: K. Köhle et al. (Hrsg.). Uexküll Psychosomatische Medizin. Theoretische Modelle und klinische Praxis. Elsevier. Urban & Fischer. (German Edition). Kindle. S. 92

Menschliche Entwicklung ist ein Anpassungsprozess (Gleichgewichtsprozess) in einem ständigen Austausch zwischen physiologisch-körperlicher Entwicklung (zum Beispiel Entwicklung des Gehirns und seiner Funktionen) und altersspezifischen Erwartungen von Anpassungsleistungen/Bewältigungszielen (zum Beispiel Entwicklungsaufgaben nach Havighurst, 1953). Entwicklungsaufgaben haben einen biologischen, kulturellen, gesellschaftlichen und individuellen Ursprung.

Systemisches Denken und das Konzept der Passung

Schneider, W, & Lindenberger, U. (Hrsg.). (2012). Entwicklungspsychologie. Weinheim Basel. Beltz. S. 35

Brandtstädter hat Entwicklungsprobleme als Passungsprobleme charakterisiert…  

Brandtstädter, J. (1985). Entwicklungsprobleme des Jugendalters als Probleme des Aufbaus von Handlungsorientierungen. In D. Liepmann & A. Stiksrud (Hrsg.). Entwicklungsaufgaben und Bewältigungsprobleme der Adoleszenz. Göttingen. Hogrefe. S. 5 -12.

…, insofern notwendige individuelle Bewältigungsstrategien (Copingstrategien) sich nicht mit den Erfordernissen der Entwicklungsaufgaben „decken“.

Entwicklungs-/Passungsprobleme sind demnach Diskrepanzen zwischen den

  • Potenzialen (Dispositionen, Kompetenzen usw.) eines Individuums und
  • anderseits den Anforderungen im familiären, schulischen, subkulturellen Umfeld des Individuums, d. h. den dort existierenden alters-, funktions- oder bereichsspezifischen Standards und Angeboten (Lern- und Hilfsangeboten, Ressourcen) in der Umwelt des Individuums.

Entwicklungs-/Passungsprobleme manifestieren sich in nicht adäquatem Denken, Verhalten, Erleben in verschiedenen Problembereichen: schulische und berufliche Probleme, Selbstwertprobleme, Statusprobleme, Beziehungsprobleme… und führen demzufolge zu entwicklungspsychologischen Anpassungsstörungen

Brandtstädter, J. & Lindenberger, U. (Hrsg.). (2007). Entwicklungspsychologie der Lebensspanne. Ein Lehrbuch. Stuttgart. Kohlhammer. S. 38.

(Ergänzend: Nicht zu verwechseln mit Anpassungsstörungen auf schwere Belastungen nach ICD-10, F43, wobei diese in derselben logischen Herangehensweise definiert werden könnten.)

4. Anpassung von Menschen im Autistischen-Spektrum 

a. Da „Autismus“ als genetisch bedingte, neurobiologisch verankerte Entwicklungsstörung anzusehen ist, … insbesondere strukturelle Besonderheiten der Gehirne autistischer Menschen festgestellt wurden … und zugleich Veränderungen (normative Abweichungen) der neuronalen Konnektivität als gesichert gelten…

Kamp-Becker, I. & Bölte, S. (2021). Autismus. Stuttgart. utb. (German Edition). Kindle-Version. S.30 und 38.

…, ist die Anpassungsleistung von Menschen im Autistischen-Spektrum von der Geburt an, an das Ausmaß (Intensität) und der Qualität der hirnorganischen Besonderheiten gebunden, die sich auf die allgemeine Funktionsfähigkeit im Austausch mit der Umwelt auswirken und wie diese zum Beispiel ob der Ressourcen oder Einschränkungen:

  • in der sozialen Wahrnehmung/Interaktion/Kommunikation,
  • dem Reiz- und Aufmerksamkeitsmanagement,
  • der Selbst- und Handlungsorganisation,
  • der affektiven Stressregulation

wirksam werden.

Diese hirnorganischen Besonderheiten werden im Austausch mit der Umwelt von Bedeutung sein, das heißt wie „altersspezifische“ Entwicklungsaufgaben, zum Beispiel:

  • die frühe Bindungsentwicklung,
  • die Entwicklung der Sprache und des Sprechens,
  • die Imitationsfähigkeit in der Spielentwicklung,
  • der soziale Austausch mit Peers in frühpädagogischen Einrichtungen,
  • der soziale Austausch mit Peers und die Leistungsbewältigung in der Schule, Ausbildung/Studium, Beruf,
  • später dann eventuell Partnerschaft etc.,

…auf hoch individuelle Art und Weise bewältigt werden können. 

Anpassungsdiskrepanzen (Systemüberforderung des hirnorganischen Potenzials) können zu jedem Zeitpunkt der Entwicklung zu einer Autismus-Spektrum-Störung führen.

b. Dieser „Zeitpunkt“ der Störungsentwicklung wird in einem hohen Maß aber auch von externen Schutz- oder Risikofaktoren beeinflusst.

Faktor Mensch

Hinweise für die wichtige modulierende Rolle von gesellschaftlichen Erwartungen liefern die Beispiele, in denen Personen mit ASS sich durch ein tolerantes und wertschätzendes Umfeld (z. B. Eltern, Freunde, Ehepartner, Kollegen) in ihrer Andersartigkeit angenommen erleben, wodurch Stresserfahrungen weitestgehend ausbleiben können.

Dziobek, I. & Stoll, S. (2019). Hochfunktionaler Autismus bei Erwachsenen: Ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Manual. Stuttgart. Kohlhammer Verlag. (German Edition). Kindle-Version. Pos. 857.

Feinfühlige und fördernde Eltern, verständnisvolle und in der Thematik geschulte Pädagogen in der Kita, Schule, Ausbildung; verstehende Vorgesetzte, Kolleginnen und Kollegen auf der Arbeit sind äußerst wertvolle „Schutzfaktoren“ für Entwicklung eines Menschen im Autistischen-Spektrum. 

Faktor Struktur/Anforderung

Aber auch extern-strukturelle Umwelteinflüsse haben auf den Zeitpunkt der „Passungsstörung“ einen Einfluss, insofern es zu vielfältigen zeitlich definierten Varianten der Feststellung einer Autismus-Spektrum-Störung kommen kann.

Entscheidend ist dabei, wie die jeweilige soziale Reizwelt mit dem autistischen System des Wahrnehmens von Ordnung und Struktur übereinstimmt und unter welchen äußeren Bedingungen dieses System überfordert wird.

So kann eine Autismus-Spektrum-Störung bereits im Kleinkindalter auffallen, frühe Regulationsstörungen oder Fütterstörungen, eine Übersensibilität bei Kleinkindern können dabei erste Hinweise auf eine neuronale Systemüberforderung sein (sie können aber auch andere Ursachen haben). Ebenso können Beeinträchtigungen in der Kommunikation und Interaktion in der frühen und späteren Entwicklung auffallend sein.       

Vor allem bei Entwicklungsübergängen zum Beispiel von der Familie in die Fremdbetreuung, der Kita zur Schule oder von dieser in die Ausbildung oder zum Studium kann es in Anbetracht der veränderten Anforderungen (Ordnungs- und Strukturänderung, Änderungen im sozialen Kontaktumfeld) zur „Störungsqualität“ kommen.

Die „Störungsfeststellung“ besteht in der Regel darin, dass normative Erwartungen nicht bewältigt werden können und/oder autistische Verhaltensweisen „auffällig“ werden:

  • Das „ruhige Kind“ in der Kita, das in Erwartung von Reifung „mitgenommen“ wird, kann unter schulischen Anforderungen in autistische Systemüberlastung kommen und auffallen.
  • Der Außenseiter in der Schule, der ob guter schulischer Leistungen toleriert wird, findet sich unter veränderten Anforderungen in der Berufsausbildung oder im Studium nicht zurecht.

Gerade für Menschen mit hochfunktionalem ASS stellt die Schule nach klinischer Erfahrung … einen stabilisierenden Faktor dar. Denn sie ist geprägt durch Routinen und eine ausgesprochene Regelmäßigkeit und Berechenbarkeit der alltäglichen Abläufe.

Tebartz v. Elst (2016). (Hrsg). Das Asperger-Syndrom im Erwachsenenalter und andere hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störungen. Berlin. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. (German Edition). Kindle-Version. S.30.