Autismus-Spektrum-Störung - Komorbidität und andere Krankheiten
Unter Komorbidität versteht man das gemeinsame Auftreten verschiedener Erkrankungen bei einer Person in einem bestimmten Zeitraum. Wenn mehrere Erkrankungen vorliegen oder zum Beispiel eine psychische Erkrankung mit einer körperlichen Erkrankung einhergeht, wird dies Multimorbidität genannt.
Krankheitsmodelle erklären die Entstehung von Krankheiten. Es gibt vielfältige Modelle wie das biomedizinische Krankheitsmodell, soziologische Krankheitsmodelle, verhaltenstheoretische Krankheitsmodelle oder psychologische Krankheitsmodelle. Das erweiterte bio-psycho-soziale Krankheitsmodell kombiniert verschiedene Ursachen im Verständnis einer Köper-Seele-Einheit.
Im biomedizinischen Krankheitsmodell wird davon ausgegangen, dass Krankheiten nur entstehen, wenn Funktionen des Körpers gestört sind. Solche Störungen müssen demnach biochemisch oder physikalisch nachweisbar sein.
Bei psychischen Störungen oder in der Kombination von körperlichen und psychischen Störungen ist dieser Nachweis nach derzeitigem wissenschaftlichem Kenntnisstand oft nicht möglich, da es sich um kategorial unterschiedliche Phänomene handelt, die voneinander unabhängig und klar abgrenzbar sein können oder nicht und die jeweils für sich ein eigenständiges Entstehungs- und Verlaufsprofil habe.
Wirtz, M.-A. (Hrsg.). (2021). Dorsch Lexikon der Psychologie, Hogrefe. Bern. S. 993.
Im regelhaften Einzelfall sind derartige ursächliche Abgrenzungen auch bei (Entwicklungs-) Störungen wie die Autismus-Spektrum-Störung selten möglich.
So ist die Verursachung der Autismus-Spektrum-Störung zwar bekannt:
- genetisch bedingte, neurobiologisch verankerte Entwicklungsstörung,
- strukturelle Besonderheiten der Gehirne autistischer Menschen,
- Veränderungen (normative Abweichungen) der neuronalen Konnektivität.
Kamp-Becker, I. & Bölte, S. (2021). Autismus. Stuttgart. utb. (German Edition). Kindle-Version. S.30 und 38.
…, das neuronale Zusammenspiel mit anderen Störungen ist bisher aber nicht umfassend erforscht.
Zudem wird in der Entwicklung im Lebensverlauf eines jeden Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung das Zusammenspiel durch psychosoziale Einflüsse moduliert (Ausmaß und Qualität entwicklungsunterstützender bzw. -hemmender Faktoren).
1. Entwicklungsstörungen nach ICD-11 und komorbide/multimorbide Zusammenhänge
Bei den möglichen komorbiden und multimorbiden Entwicklungsstörungen im Zusammenhang mit der Autismus-Spektrum-Störung …
Tebartz v. Elst, L. et al. (Hrsg.) (2022). Entwicklungsstörungen: Interdisziplinäre Perspektiven aus Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters. Stuttgart. Kohlhammer.
Tebartz v. Elst, L. et al. (Hrsg.) (2022). Autismus, ADHS und Tics: Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit. Stuttgart. Kohlhammer.
… wird hier auf die der Intelligenzstörung und der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung eingegangen.
2. Autismus-Spektrum-Störung und Intelligenzminderung
1. Die Wortwahl „Intelligenzminderung“ basiert auf einen entstigmatisierenden Ansatz zum Begriff der „Intelligenzstörung“, der im klinischen Bereich mit der ICD-10 eingeführt wurde. Bei einer Intelligenzminderung (sozialgesetzlich: geistige Behinderung oder intellektuelle Behinderung) handelt es sich um eine statistische Abweichung von einer Normstichprobe, die unterhalb eines IQ von 70 liegt und nach ICD-10 wie folgt graduiert wird (Schweregrade der Intelligenzminderung):
- leichte Intelligenzminderung: IQ 69 – 50
- mittlere Intelligenzminderung: IQ 49 – 35
- schwere Intelligenzminderung: IQ 34 – 20
- schwerste Intelligenzminderung: IQ < 20
Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M.H. (2015). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD 10 Kapitel V (F). Bern. Hogrefe. S. 307 ff.
Das statistische Modell der Intelligenzerfassung mit Testverfahren, das der Normalverteilung folgt, bildet in einem IQ-Spektrum von IQ 85 – 115 die „Norm“ ab.
Insofern IQ-Werte unter 85 bis 70 im Grunde auch als eine Minderung der Intelligenz verstanden werden können. Nach der Multiaxialen Klassifikation wird dies als niedrige Intelligenz (unterdurchschnittliches Intelligenzniveau) bezeichnet.
Remschmidt, H. et al. (2012). (Hrsg.). Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 der WHO. Bern. Huber. S. 303-310.
2. Die intellektuellen Fähigkeiten, das Intelligenzniveau eines Menschen, wird in der Regel mit entsprechenden Testverfahren (Intelligenztests) nachgewiesen und mit einem Intelligenz-Quotient (oder Indexwert, IQ) abgebildet. Es gibt verschiedene Modelle von Intelligenz also, was man unter Intelligenz versteht und welche kognitiven Fähigkeiten man zur Intelligenzfeststellung hinzuzieht. Entsprechend gibt es auch verschiedene Testinventare zur Erfassung von „Intelligenz“.
Als „Achievement“ kann man das Ergebnis (den Erfolg) verstehen, wie Probanden im Testverfahren „abschneiden“, insofern von einer Diskrepanz von Intelligenz und Achievement auszugehen ist, denn auch die Testdurchführung selbst wird von zusätzlichen Faktoren, zum Beispiel einfach schon, wie „sympathisch“ man die Person findet, welche den Test anleitet, beeinflusst. Insofern versucht man, die Testdurchführung zu standardisieren, um möglichst viele „intelligenzbeeinflussende“ Faktoren auszuschließen und eine Test-Vergleichbarkeit herzustellen.
Das „Achievement“ im Alltag (zum Beispiel auch gemessen mit Schulnoten) unterliegt insofern vielfältigen zusätzlichen Einflüssen, die unabhängig von der intellektuellen Fähigkeit eines Menschen sein können, wie zum Beispiel Motivation (Fleiß), Interesse, emotionale Befindlichkeit (Stress), Organisationsfähigkeit der Handlungen beim Lernen u.a.
Intelligenztest für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung, insbesondere im Kindesalter, sind nicht unproblematisch, da der gemessene IQ-Wert zum Beispiel für Einschulung oder die Schulart entscheidend sein können. Das Achievement wird hochgradig vom Zustand des Erlebens dieser konkreten Anforderung in der Testsituation bestimmt, vereinfacht: Ob zum „Fenster der autistischen Welt“ in diesem Augenblick auch die Testanforderungen (der Test) gehören.
3. Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung haben nicht zwangsläufig auch eine Intelligenzminderung.
Entgegen der Darstellung in den Medien weisen die Mehrzahl der Betroffenen (ca. 60 %) eine unterdurchschnittliche Intelligenz auf, ca. 40 % eine intellektuelle Behinderung und nur eine sehr kleine Minderheit (ca. 3 %) verfüge über überdurchschnittliche kognitive Fähigkeiten.
Kamp-Becker, I. & Bölte, S. (2021). Autismus. Stuttgart. utb. (German Edition). Kindle-Version. S. 26-27.
Mit der Öffnung des Konstruktes Autismus zur Autismus-Spektrum-Störung werden andere Verteilungen erwartet, welche den Anteil von intellektuellen Behinderungen (Intelligenzminderung) womöglich noch geringer ausfallen lassen werden.
Nach derzeitigem Kenntnisstand gibt es keine belastbaren Untersuchungen, die den Zusammenhang zwischen den Schweregraden der Intelligenzminderung und einer Autismus-Spektrum-Störung darstellen. Aus praktischen Erfahrungen geht jedoch ein Schweregrad ab einer mittleren Intelligenzminderung (IQ 49 – 35) regelhaft mit einer Autismus-Spektrum-Störung einher.
Häufig gibt es diesen komorbiden Zusammenhang bereits im unteren Bereich der leichten Intelligenzminderung (IQ 69 – 50) ab einem IQ-Wert unter 60, der bildhaft als „tiefstehende Debilität“ bezeichnet wird.
Demgegenüber (in Relation dazu) muss bei einem IQ-Wert zwischen ca. 65 – 69 nicht immer auch eine Autismus-Spektrum-Störung vorliegen. Erwähnt sei das nochmals, dass dies praktische Erfahrungen in der Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störung sind.
Unter der Begrifflichkeit des hochfunktionalen Autismus erfasste man später (hier im Schwerpunkt) Kinder mit Frühkindlichem Autismus, bei denen der IQ-Wert > 69 war. Auch nach ICD-11 wird die Klassifikation der Autismus-Spektrum-Störung neben der Sprachentwicklung an der Intelligenzentwicklung ausgerichtet.
Die Wortwahl „Hochfunktionaler Autismus“ wird aber im neueren Verständnis von Autismus-Spektrum-Störung auch mit überdurchschnittlicher Intelligenz, also einem IQ > 115 assoziiert und eine positive genetische Korrelation zwischen spezifischen autistischen Genvariationen angenommen.
https://autismus-spektrum.ch/autismus-intelligenz (18.01.2023)
Autismus-Spektrum-Störung und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung nach ICD-11
a. Nach Studienlage tritt bei ca. 30 – 80 Prozent der Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung auch eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung auf.
Umgekehrt treten bei ca. 20 – 50 Prozent der Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung auch Störungsphänomene auf, welche man bezogen auf Qualität und Quantität mehr oder weniger stark den Autismus-Spektrum-Störungen zuordnet.
Hofvander, B. et al. (2009). Psychiatric and psychosocial problems in adults with normal-intelligence autism spectrum disorders. BMC Psychiatry 10.
Rommelse, N.N. et al. (2010). Shared heritability of attention-deficit/hyperactivity disorder and autism spectrum disorder. Eur Child Adolesc Psychiatry 19: 281–295.
Rutter, M. & Thapar, A. (2014). Genetics of autism. In: Volkmar, F.R. et al. (Ed.) Handbook of Autism and Pervasive Developmental Disorders. 4th Edition. Wiley: Hoboken. S. 411–423.
In der immer noch gültigen ICD-10, die seit 1994 die Grundlage für jedwede Klassifikation von Störungen ist, werden die Varianten der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung unter Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend klassifiziert (F9). Jedoch werden bereits da konstitutionelle Faktoren (keine psychosozialen) in der Genese als verantwortlich erachtet. Die Ätiologie sei unklar.
Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M.H. (2015). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD 10 Kapitel V (F). Bern. Hogrefe. S. 358.
b. Der „Autismus“ wird in der ICD-10 im kategorialen Verständnis in seinen drei Varianten:
- Frühkindlicher Autismus (F84.0),
- Atypischer Autismus (F84.1),
- Asperger-Syndrom (F84.5),
als tiefgreifende Entwicklungsstörungen unter Entwicklungsstörungen (F8) klassifiziert.
Dilling, H., Mombour, W. & Schmidt, M.H. (2015). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD 10 Kapitel V (F). Bern. Hogrefe. S. 317 ff und 355 ff.
Nach ICD-10 haben beide Störungen „ausschließenden Charakter“, das heißt, wenn ein Autismus klassifiziert wird, muss eine AD(H)S in ihren Varianten ausgeschlossen werden und umgekehrt.
Bereits in der DSM-5® (2018) werden beide ohne ausschließendes Kriterium gemeinsam den Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung zugeordnet.
Wittchen, H.-U. & Falkai, P. (2018). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5(R). Göttingen. Hogrefe. S. 39 ff.
In der seit 01.01.2022 geltenden, jedoch noch nicht ratifizierten ICD-11 werden beide Störungen:
- 6A02 Autismus-Spektrum-Störung,
- 6A05 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen
ebenfalls gemeinsam unter 06 – Mentale-, Verhaltens- oder Neuronale Entwicklungsstörungen klassifiziert.
Es besteht hochwahrscheinlich ein neurokognitiver Zusammenhang zwischen AD(H)S und Exekutive Dysfunktion, insofern dieser mit der Dysexekutiven Hypothese zur Autismus-Spektrum-Störung zu korrespondieren scheint.
Tebartz van Elst, L. (2018). Autismus und ADHS: Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit. Stuttgart. Kohlhammer. (German Edition). Kindle Version. Pos. 2433.
Kamp-Becker, I. & Bölte, S. (2021). Autismus. Stuttgart. utb. (German Edition). Kindle-Version. S. 38.
c. Die AD(H)S wird als eine Störung der Entwicklung der Exekutiven Funktionen angenommen.
Barkley, RA. (1997) ADHD and the nature of self-control. Guilford, New York.
Barkley, RA. (1997) ADHD, self-regulation, and time: Towards a more comprehensive theory of ADHD. J Dev Behav Pediatr 18: 271–279.
Barkley, RA. (1997) Inhibition, sustained attention, and executive functions: Constructing a unifying theory of ADHD. Psychological Bulletin 121: 65–94.
Smith et al. (1999) und von Cramon (2000) unterscheiden in fünf Komponenten Exekutiver Funktionen:
- die Fokussierung der Aufmerksamkeit,
- das Aufgabenmanagement, (Planung und Koordination einzelner Prozesse in komplexen Aufgaben, „Zwischenschritte“),
- die Planung in Bezug auf eine zielgerichtete und sinnvolle Aktivität,
- die Überwachung und Kontrolle der Aktivität und nötigenfalls die Korrektur derselben
- die Leistungen des Arbeitsgedächtnisses.
Müller, A., Candrian, G. & Kropotov, J. (2011). ADHS – Neurodiagnostik in der Praxis. Berlin Heidelberg. Springer. (German Edition). Kindle-Version. S.67.
Bei Kindern, die in Bezug auf die Handlungsplanung, -steuerung und -kontrolle große Mühe bekundeten, fand man funktionale Auffälligkeiten im orbitofrontalen Kortex, im anterioren cingulären Kortex, im dorsolateralen präfrontalen Kortex sowie im anterioren präfrontalen Kortex.
Grafman, J. (1995) Similarities and distinctions among current models of prefrontal cortical functions. Ann NY Acad Sci 769: 337–368.
Lern- und arbeitsbeeinträchtigende Störungen bei einer AD(H)S basieren auf neuronalen Störungen der Informationsverarbeitung in folgenden basalen Funktionsbereichen:
- Aktivierung,
- Fokussierung,
- Effort (Regulation der Vigilanz/Alertness, Daueraufmerksamkeit und Arbeitsgeschwindigkeit),
- Gedächtnis,
- Monitoring und
- Emotionen
Brown, TE. (2000) Attention-deficit disorders and comorbidities in children, adolescents, and adults. American Psychiatric Press, Washington DC.
In einer großen Studie aus 2017 fand man bei Kindern mit AD(H)S ein Geschlechterverhältnis von 1,6:1 (Jungen:Mädchen).
Fayyad, S. et al. (2017). The descriptive epidemiology of DSM-IV Adult ADHD in the World Health Organization World Mental Health Surveys. Atten Dific Hyperact Disord. Mar.9.(1): 47-65.
Vor allem bei Mädchen assoziiert eine AD(H)S eher mit dem Unaufmerksamen Typus, während bei Jungen eher der Impulsive Typus vorkommt. Hyperaktivität ist bei beiden Geschlechtern gleich häufig vertreten.
Slobodin, D. (2019). Gender Differences in Objective an Subjective Measures of ADHD Among Clinic-Referred Children. Front Hum Neurosci. Dec. 13; 13:441.
3. Autismus-Spektrum-Störung komorbid-psychische und Verhaltensstörungen
a. Bei „Überlagerung“ der Autismus-Spektrum-Störung mit anderen psychischen Störungen können die Zusammenhänge verschiedenen Ursprungs sein: (a) komorbid (gemeinsam und unabhängig voneinander) und/oder (b) als Folge der anhaltenden Stressreaktionen (eines anhaltenden Overloads) bei autistischen Funktionsüberlastungen:
Besonders häufig bei ASS vorkommende komorbide affektive Störungen und Angststörungen sind soziale Phobien, generalisierte Angststörungen, Posttraumatische Belastungsstörungen, Dysthymien und Depressionen (Strunz, Dziobek & Roepke, 2014; Vohra, Madhavan & Sambamoorthi, 2016).
Dziobek, I. & Stoll, S. (2019). Hochfunktionaler Autismus bei Erwachsenen: Ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Manual. Stuttgart. Stuttgart. Kohlhammer. (German Edition). Kindle-Version. Pos. 884.
Psychische und Verhaltensstörungen als Folge der Überlastung des autistischen Systems können bereits im Kindesalter auftreten und sind häufig (besonders dann im Erwachsenenalter) der Vorstellungsgrund in der psychotherapeutischen/psychiatrischen Versorgung.
b. Im Erwachsenenalter werden in Unkenntnis einer zugrundeliegenden Autismus-Spektrum-Störung häufig psychiatrische Diagnosen anderen Ursprungs gestellt, wie Persönlichkeitsstörungen, Zwangsstörungen, Angststörungen, affektiven Störungen und psychiatrische Störungen wie Psychosen u.ä.
Nur eine spezifische biographische Analyse kann nähere Aufschlüsse darüber geben, ob diese Diagnosen als komorbide oder Folgestörung einer Autismus-Spektrum-Störung vorliegen.
c. Ein Zusammenhang scheint auch zur Borderline-Persönlichkeitsstörung zu bestehen.
Die Hälfte der untersuchten Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung, in einer allerdings kleinen Studie (38 Patientin), wies eine hohe Ausprägung an autistischen Zügen auf. Sie hatten eine signifikant reduzierte Fähigkeit zur Perspektivenübernahme (kognitive Empathie) und größere Schwierigkeiten bei der Identifikation und Beschreibung der eigenen Gefühle, während sich keine Unterschiede in Hinblick auf die emotionale Empathie fanden.
Nanchen, K. et al. (2016). Autistische Züge bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung unter Berücksichtigung der Empathie.
Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie. 64. (4). 247-255.
d. In der ICD-10 besteht analog dem Verhältnis von Autismus und AD(H)S auch in Bezug auf die sogenannte schizoide Persönlichkeitsstörung ein gegenseitiges Ausschlussdiktat. In der neueren Literatur wird konzeptionell eher eine „verbindende“ Theorie, die der angeborenen „Informations-Integrations-Störung“ vorgeschlagen, bei der im Kern das Schizoide (das auf sich selbst Bezogene, das eine Art von abgespalten von der Umwelt meint) steht.
Rössler, H.H. (2019). Neue Autismus-Theorie – Bedarf es noch des Schizoidie-Konzepts). In: Dammann, G. & Kernberg, O.F. (Hrsg.). Schizoidie und schizoide Persönlichkeitsstörung. Stuttgart. Kohlhammer. (German Edition). Kindle-Version. Pos. 2769.
e. Auch bei Bindungsstörungen in der frühen Kindheit lassen sich in der späteren Entwicklung in unterschiedlichen Störungsausprägungen Phänomene beobachten, die der autistischen Mentalisierungsstörung ähneln.
Bindungsstörungen als Folge einer gestörten oder dysfunktionalen frühen Kind-Bezugspersonen-Interaktion haben verschiedene Ursachen, auf die hier nur beispielhaft eingegangen wird.
Die stabile Verfügbarkeit von Bezugspersonen und die Sensitivität der Betreuung (auch Responsivität oder Feinfühligkeit, M. Ainsworth, 1974) sind die Voraussetzung für eine sichere Bindung.
Ahner, L. (2004). Bindung und Bonding: Konzepte der frühen Bindungsentwicklung. In: L. Ahnert (Hrsg.) Frühe Bindungen- Entstehung und Entwicklung. München. Reinhardt. S. 73.
Mit dem Begriff des Containments (Bion, 1992), eine Erweiterung des Verständnisses von Feinfühligkeit nach Ainsworth (1974, 1977), wird die Fähigkeit der Bindungsperson beschrieben, insbesondere negative Gefühle eines Kindes „aufzunehmen“ und das Kind angemessen zu regulieren (zum Beispiel durch trösten), insofern Regulationskompetenzen entwickelt werden wie ein Kind negative Gefühle wahrnimmt und mit negativen Gefühlen (bei Trennung oder/und Stresssituationen jedweder Art) umzugehen lernt.
Kalisch, K. (20129. Mentalisierung und Affektregulation – Wie sich das kindliche Selbst entwickelt. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. 61 (5). S. 341.
Eine exakte Unterscheidung ist dann schwierig, wenn eine Bindungsstörung komorbid mit einer Autismus-Spektrum-Störung vorliegt.
Bei Bindungsstörungen (hier im primären Verständnis von frühen psychosozialen Austauschprozessen) ist das elterliche Bindungsverhalten (Attachment) im gegenseitigen Austausch nicht auf das Kind abgestimmt. Ursachen können sein: ein emotionales Mangelmilieu, psychische Krankheit von Eltern, ein habitueller Mangel an Feinfühligkeit der Bezugspersonen allgemein, Trennung von Eltern, eine nicht gegenseitig abgestimmte dysfunktionale Eltern-Kind-Interaktion.
Brisch, K.H. (2009). Bindungsstörungen. Stuttgart. Klett Cotta. (German Edition). Kindle-Version. S. 51ff.
Kindler, H. (2019). Einschätzung von Bindungsbeziehungen unter Bedingungen elterlicher Hochstrittigkeit in Deutschland. In: K.H. Brisch (Hrsg.) Stuttgart. Klett Cotta. (German Edition). Kindle-Version. S. 63-80.
Plattner, A. (2019). Affektive Erkrankungen und Angststörungen. In: A. Plattner (Hrsg.). Erziehungsfähigkeit psychisch kranker Eltern richtig einschätzen und fördern. München. Ernst Reinhardt Verlag. (German Edition) Kindle-Version. Pos. 824-853.
Andererseits kann bei einem Kind mit Autismus-Spektrum-Störung das Bonding, also wie sich ein Kind binden kann, eingeschränkt sein, so dass dadurch die Kind-Bezugspersonen-Interaktion beeinträchtigt werden kann.
Ursachen für eine bindungsbedingte Mentalisierungsstörung (frühe neuronal verankerte Lernprozesse) sind im Mangel „emotionaler Spiegelung“ eines Kindes (im Attachment) oder eine Systemüberforderung von Spieglungsprozessen (im Bonding) zu suchen.
Fonagy, P. et al. (2002). „Mit der Realität spielen“: Entwicklungsforschung und ein psychoanalytisches Modell. In: Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart. Klett Cotta. S. 258-294.
Fonagy, P. et al. (2002). Markierte Affektspiegelung und die Entwicklung eines affektregulierten Gebrauchs des Als-ob-Spiels. In: Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart. Klett Cotta. S. 295-319.
Ein ebensolches mentalisierungsbeeinträchtigendes Potenzial haben sexueller Missbrauch und Gewalterfahrungen in der frühen Kindheit.
Brisch, K.H. (2016). Trauma ist nicht gleich Trauma. In: K.H. Brisch (Hrsg.). Bindungstraumatisierungen. (German Edition). Kindle-Version. S.12-22.
Während eine Autismus-Spektrum-Störung anlagebedingte, hirnanatomische/hirnphysiologische oder erworbene neuronale Ursachen hat, sind Mentalisierungsdefizite bei Bindungsstörungen primär psychosozial bedingt. Beide wirken sich auf die sich entwickelnde neuronale Informationsverarbeitung aus.
4. Andere Krankheiten als Ursache für eine Autismus-Spektrum-Störung (sekundärer Autismus)
Schwierig gestaltete sich bisher die klassifikatorische Einordnung nach ICD-10 von Phänomenen des Autismus in Folge von Erkrankungen und Schädigung mit Funktionsstörungen des Gehirns (erworbene Ursachen).
Erworbene Verursachungen einer Autismus-Spektrum-Störung darzustellen war nach ICD-10 schwierig, da das Verständnis von Autismus (Frühkindlicher Autismus und Asperger-Syndrom) immer mit einem idiopathischen Autismus assoziiert war (also ohne bekannte Ursachen oder als anlagebedingte Krankheit).
Erworbene Verursachungen wurden dann zusätzlich als sekundärer (symptomatischer) Autismus gekennzeichnet, was im Grunde nicht zwangsläufig der Logik des Autismus nach ICD-10 folgte.
Nicht nur die DSM-5® auch die ICD-11 öffnen die Kodierungs- und Beschreibungsmöglichkeit von ursächlichen Differenzierungen, die so in der ICD-10 nicht möglich waren.
Nach Tebart v. Elst (2022) wird davon ausgegangen, dass etwa 10 % der diagnostizierten Autistischen Syndrome der Kategorie des sekundären Autismus zugeordnet werden können.
Sekundärer Autismus (eine sekundäre Autismus-Spektrum-Störung) kennzeichnet ein Autistisches Syndrom in Folge erworbener Ursachen:
- genetische Störungen (zum Beispiel Fragiles-X-Syndrom, Angelman-Syndrom, Down-Syndrom, Rett-Syndrom),
- intrauterine Erkrankungen (Rötelinfektion, Herbes-Encephalitis),
- intrauterine Expositionen durch Valproat (Epilepsie-Medikament) oder zum Beispiel Alkohol (komorbid zur Fetalen Alkoholspektrumstörung-FASD),
- ein geringes Geburtsgewicht (oft im Zusammenhang mit Frühgeburten),
- ebenso ist ein überzufällig häufiges Auftreten eines Autistischen Syndroms im Zusammenhang mit Epilepsie, Tuberöser Sklerose, Zerebralparese.
Döpfner, M. et al. (2018). (Hrsg.). Diagnostisches und statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5®. Göttingen. Hogrefe. S.67
Tebartz v. Elst, L. et al. (Hrsg.) (2022). Autismus, ADHS und Tics: Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit. Stuttgart. Kohlhammer. S. 103, 126.
(Stand 1/2023) https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http://id.who.int/icd/entity/43781562
In Sonderfällen kann ein Autistisches Syndrom (eine Autismus-Spektrum-Störung) in der klinischen Gesamtschau vorhandener Erkrankungen und vor allem in Ermanglung anderer schlüssiger Erklärungsansätze als kryptogene Formen der Autismus-Spektrum-Störung verstanden werden. Dazu gehören in Sonderfällen zum Beispiel Geburtskomplikationen, Infekte, Gehirnentzündungen, EEG-Pathologien nach Hirnblutungen, frühe epileptische Enzephalopathien und Neurofibromatose oder andere genetische Erkrankungen.
Tebartz v. Elst, L. et al. (Hrsg.) (2022). Autismus, ADHS und Tics: Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit. Stuttgart. Kohlhammer. S. 103.
(Stand 1/2023) https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http://id.who.int/icd/entity/437815624
In der Praxis sind derart kryptogene Formen auch als Zustand nach Hydrozephalus, operativen Gehirneingriffen in der frühen Kindheit anzutreffen.