Autismus-Spektrum-Störung im Erwachsenenalter

Die Mehrzahl der Autismus-Spektrum-Störungen wird heutzutage immer noch im Kindes- oder Jugendalter diagnostiziert, so dass sich die Frage der Diagnose bei Erwachsenen oft nicht (mehr) stellt. Bei vor 1990 geborenen Personen (ergänzend: ICD-10 ist seit 1994 in Kraft) allerdings besteht eine deutliche „diagnostische Lücke“, da insbesondere hochfunktionale ASS (ergänzend: wie das Asperger-Syndrom, erst in der ICD-10 formuliert) häufig nicht als solche erkannt wurden. Insofern muss für diese Personengruppe im höheren Erwachsenenalter eine Autismusdiagnostik nachgeholt werden.

Riedel, Andreas; Clausen, Jens Jürgen. (2020). Autismus-Spektrum-Störungen bei Erwachsenen. Köln. Psychiatrie-Verlag. (German Edition). Kindle-Version. S. 36.

Vor allem im früheren Kindesalter, der Domäne der Kanner-/Asperger-Forschung und der weiteren Forschung der folgenden Jahrzehnte, sind die Beeinträchtigungsebenen in der gegenseitigen Interaktion, der (sprachlichen) Kommunikation, der repetitiv-stereotypen Verhaltensweisen, die man als Autistisches Syndrom zusammenfasst, kristalliner als Syndrom einer Autismus-Spektrum-Störung zu erkennen und eine diagnostische Differenzierung relational „eindeutiger“ möglich als im Erwachsenenalter.

Der beobachtbare Phänomenbereich verändert sich im Entwicklungsverlauf und damit das Erscheinungsbild der Autismus-Spektrum-Störung. Das „Klassische“ des Autismus „verschwimmt“.

Zusätzlich erschwerend (gemeint ist Autismus im Erwachsenenalter) kommen … Kompensationsleistungen hinzu, die dazu führen, dass viele Symptome nicht mehr auf den ersten Blick beobachtbar sind.

Riedel, Andreas; Clausen, Jens Jürgen. (2020). Autismus-Spektrum-Störungen bei Erwachsenen. Köln. Psychiatrie-Verlag. (German Edition). Kindle-Version. S. 37.

Schwierig wird es bezüglich der gesellschaftlichen und behördlichen Akzeptanz dieser Diagnose insbesondere dann, wenn die Autismus-Spektrum-Störung ob der damit verbundenen Anpassungsstörungen in Übergängen nach der Schule oder im Rahmen des Berufes erst im Erwachsenenalter auffällt, insofern in der Kindheit und Jugend keine entsprechende Diagnosestellung notwendig war (siehe auch Kapitel Autismus-Spektrum-Störung und Anpassung).

1. Erwachsene mit Autismus-Spektrum-Störung im klinischen Kontext

a. Häufig kommen Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung im Erwachsenenalter nicht wegen dieser zur Vorstellung in psychiatrisch/psychologische Praxen, sondern wegen vielfältiger anderer Probleme und Symptome.

Im „klinischen Störungsfall“ sind die Symptombilder im Erwachsenenalter vielfältiger, diffuser und zeigen sich aus der Perspektive der klassischen Erwachsenendiagnostik in der Regel als vermeintliche Persönlichkeitsstörungen, affektive und Zwangsstörungen, psychoseähnliche Erkrankungen u.a.m.

Eine diagnostische Zuordnung zur Autismus-Spektrum-Störung ist dann schwierig.

Das (fachliche) Umdenken von Autismus-Spektrum-Störung in das Erwachsenenalter hinein ist zuweilen stereotyp-schwerfällig an kindliche Phänomene (Kernsymptome) des „klassisch-kategorialen Autismus“ gebunden.

Es sollte immer dann differenzialdiagnostisch an ein Asperger-Syndrom gedacht werden, wenn (erwachsene) Patienten mit atypischen Präsentationen von affektiven Störungen, psychosenahen Phänomenen, Zwangssyndromen, Essstörungen oder Anpassungsstörungen vorstellig werden.

Tebartz v. Elst (2016). (Hrsg). Das Asperger-Syndrom im Erwachsenenalter und andere hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störungen. Berlin. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. (German Edition). Kindle-Version. S.27.

Bei erwachsenen Personen mit ASS liegen häufig komorbide psychiatrische Störungen vor. Obwohl die Raten in der Literatur stark variieren, deuten eigene Studien (Strunz et al., 2014) und Studien anderer Autoren (z. B. Vohra et al., 2016) darauf hin, dass vorrangig affektive Störungen und Angststörung (ca. 25 – 30%) komorbid vorliegen. Des Weiteren sind bipolare Störungen, Schizophrenien, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrome und Zwangsstörungen häufige Komorbiditäten (Croen et al., 2015) bei erwachsenen Personen mit ASS. Für die zuletzt genannten Störungen und ASS existiert möglicherweise eine gemeinsame genetische Vulnerabilität. Personen mit ASS klagen zudem häufig über somatische Beschwerden.

Dziobek, I. & Stoll, S. (2019). Hochfunktionaler Autismus bei Erwachsenen: Ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Manual. Stuttgart. Kohlhammer Verlag. (German Edition). Kindle-Version. Pos. 884.

b. Auch die diagnostischen Möglichkeiten der Feststellung einer Autismus-Spektrum-Störung für das Erwachsenenalter sind begrenzt, insofern sich diese eher auf das Kindes- und Jugendalter und männliche Betroffene ausgerichtet sind.

Tebartz van Elst, L. (2009). Die hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störung im Erwachsenenalter-Symptomatik und Klassifikation. In:

Tebartz van Elst, L. (2016). (Hrsg.) Das Asperger-Syndrom im Erwachsenenalter: und andere hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störungen. Berlin. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. Kindle-Version. S. 27-35.

Insofern müssen ergänzende diagnostische Verfahren zum Einsatz kommen und die fachkundige Analyse der (bisher unbeachteten) autistischen Biografie ist von erheblicher Bedeutung.   

2. Erwachsene mit Autismus-Spektrum-Störung im sozialgesetzlichen Kontext 

Die Problemlage einer Autismus-Spektrum-Störung im Erwachsenenalter ist meist an die „Arbeitsfähigkeit“, die berufliche Integration (Teilhabe) gebunden. Insofern neben oder zusätzlich zu therapeutischen Behandlungen die Funktionsstörungen durch eine Autismus-Spektrum-Störung zu sozialgesetzlichen Fragstellungen führen, aus denen sich sozialgesetzliche Anerkennungs- und Leistungspflichten ergeben.  

Bezogen auf Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeiten im Erwachsenenalter jedoch ist, ohne Kenntnis der der komorbiden Zusammenhänge und insbesondere ohne Kenntnis der Spezifik der Autismus-Spektrum-Störung, deren sozialgesetzlichen Anerkennung (zum Beispiel SGB IX) oftmals hoch kompliziert.  

Ein bis dahin scheinbar „unauffälliger“ Entwicklungsweg wird häufig als Nachweis dafür verwendet, dass keine Autismus-Spektrum-Störung vorliegen kann oder „der Autismus doch nicht so schwerwiegend sein muss“, um einen Anspruch auf sozialgesetzlich geregelte Anerkennungen und Hilfen zu haben.   

Insbesondere wird häufig ein schulischer Abschluss zur Grundlage für ablehnende Bescheinigungen in entsprechenden sozialgesetzlichen Feststellungsverfahren zum Anlass genommen, obwohl bei bestehendem Fachwissen derart Entwicklungsverläufe und Rahmenbedingungen dazu bekannt sein müssten:

Gerade für Menschen mit hochfunktionalem ASS stellt die Schule nach klinischer Erfahrung aber auch einen stabilisierenden Faktor dar. Denn sie ist geprägt durch Routinen und eine ausgesprochene Regelmäßigkeit und Berechenbarkeit der alltäglichen Abläufe.

Tebartz v. Elst (2016). (Hrsg). Das Asperger-Syndrom im Erwachsenenalter und andere hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störungen. Berlin. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. (German Edition). Kindle-Version. S.30.

Auch der Begriff „Hochfunktionalität“ führt, vermutlich in Unkenntnis fachlicher Zusammenhänge, häufig zu Irritationen, weil dieser (zum Beispiel im Feststellungsverfahren zum Grad der Behinderung) den dort formulierten „sozialen Anpassungsschwierigkeiten“ unterschiedlicher Ausprägungen (§ 69 SGB IX, Versorgungsmedizinische Verordnung, B 3.5.1) entgegenzustehen scheint. 

Der Begriff der „Hochfunktionalität“ im Zusammenhang mit Autismus bezog sich im „klassischen“ Zugang ursprünglich auf den Frühkindlichen Autismus, dann wenn der IQ höher als 69 festgestellt wurde, insofern eine gleichzeitige (komorbide oder ursächliche) Intelligenzminderung nicht vorlag und/oder die Sprachentwicklung (nur) verzögert war.

Der Begriff der „Hochfunktionalität“ bei einem Asperger-Syndrom wird in der Regel dann verwendet, wenn insbesondere das Intelligenzniveau relational „hoch“ und die Sprachentwicklung relational „exzellent“ (Wortwahl, Wortschatz u.a.) sind.

Der Begriff der „Hochfunktionalität“ einer Autismus-Spektrum-Störung definiert aber nicht das soziale Funktionsniveau eines autistischen Menschen.

Übersichtsuntersuchungen zu den bislang vorliegenden Längsschnittuntersuchungen schätzen das Outcome als „sehr gutes Funktionsniveau“ ein, wenn eine selbstständige Lebensweise vorlag, sowie das Vorhandensein von Freunden und einer Arbeitsstelle.

Ein sehr schlechtes Funktionsniveau besteht, wenn eine starke Abhängigkeit von Unterstützungsmaßnahmen besteht oder eine stationäre Unterbringung, wenn keine Freunde vorhanden sind.

Es zeigte sich, dass bei der Hälfte der Betroffenen der Langzeitverlauf als ungünstig bis sehr ungünstig angesehen werden kann, d. h. diese Menschen sind stets auf fremde Hilfe angewiesen.

Kamp-Becker, Inge; Bölte, Sven. (2021). Autismus. München. Reinhardt. (German Edition). Kindle-Version. S.98.

Es sind demzufolge diese hochfunktionalen Varianten:

  • die ob ihrer intelligenzbedingten Leistungen in der Schule geschätzt (u. a. nicht gemobbt) wurden,
  • die, auch wenn sie keine oder nur interessenverwandte einzelne Freunde hatten, von Lehrern und Peers akzeptiert wurden,
  • die mit guten oder exzellenten Leistungen (meist in den mathematischen, naturwissenschaftlichen Fächern) brillieren konnten,
  • die ob der schulischen Strukturvorgaben stressfreier regulieren/lernen konnten und demzufolge nicht außergewöhnlich „auffielen“, insofern
  • auch kein pädagogisch verordneter Behandlungsdruck oder selbstempfundener Behandlungsbedarf bestand und
  • die in familialer Geborgenheit und Struktur aufwuchsen

…, die dann in der völlig neuen und unplanbaren Situation im Übergang des späten Jugend- und zum Erwachsenenalter hin in das Berufsleben oder zum Studium (neue Entwicklungsaufgabe) einen „Knick in der Lebensleitlinie“ erfahren und dann „plötzlich“ im Sinne einer Autismus-Spektrum-Störung auffallen.

In solchen Varianten überfordern die veränderten sozialen Anforderungen (der „Strukturbruch“) das seelische System. Die langjährig gewohnten Routinen zerfallen… es kommt zum sozialen Ausfall und in der Regel zu einem endlosen (häufig erfolglosen) Kampf im sozialgesetzlichen System, in dem gesetzlich auch für ältere Jugendliche und Erwachsene eigentlich Inklusion, Teilhabe etc. geregelt und gesichert werden sollten.

Noch zwei Gedanken:

Für den Laien und häufig auch für Professionelle im Umfeld von Pädagogik, Therapie und Begutachtung ist bis heute noch der Maßstab für einen Autisten im Erwachsenenalter der Film „Rain Man“ (1988). In einer von Dustin Hoffmann als Raymond Babbitt zweifelsfrei sehr gut gespielten Rolle wird dem Zuschauer (noch vor dem Erscheinen der ICD-10, 1994) offensichtlich klar, wie sich ein erwachsener Autist (Asperger-Syndrom) verhält.

Unter anderem durch diesen Film (es gibt noch weitere) wurde ein unumstößlicher Stereotyp von Autismus geprägt.

Kaum einer der zu diagnostizierenden Erwachsenen entspricht in seinem Verhalten und Erleben, in seiner affektiven Regulation diesem Stereotyp. Immer noch ist dieser Stereotyp aber der Maßstab für die Beurteilung von Autismus im Erwachsenenalter. Dies auch ungeachtet der Vermutung, dass „Rain Man“ bereits als Kind schon „auffällig“ gewesen sein muss.

Insofern kann dieser Stereotyp und mögliche eigene Erfahrungen mit Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung, die man in pädagogischen oder therapeutischen Settings kennengelernt hatte, nicht als Maßstab angelegt werden, um einen konkreten Menschen bezüglich seiner hoch individuellen Form der Autismus-Spektrum-Störung zu beurteilen.

Es gibt keinen Stereotyp, es gibt nicht den Autisten, auch nicht im Erwachsenenalter.  

Für Mädchen und Frauen mit Autismus-Spektrum-Störung ist die Problemlage von stereotyper Zuschreibung „noch komplizierter“ (zu geschlechtsspezifischen Unterschieden siehe entsprechendes Kapitel).