Autismus-Spektrum-Störung und Reizüberflutung
Autismus-Spektrum-Störung und Stressverarbeitung – „Overload und Stimming“
In Anbetracht der Beeinträchtigungen durch eine Autismus-Spektrum-Störung in der Interaktion und Kommunikation, dem Ausgerichtet-Sein auf Ordnungen, Routinen, einem Bedarf an Reizgleichmaß kann es in jeder Altersspanne der Entwicklung zu individuellen Überforderungen durch soziale Anforderungsdiskrepanzen kommen.
Überforderungen (einen Mangel an Passung der eigenen Ressourcen mit sozialen Anforderungen) entstehen im sozialen Austausch vor allem auch durch Reize und Reaktionen der Umwelt. Zum Beispiel ist „Mobbing“ von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung in jeder Variante (subtil bis offen) nicht selten. Auch Leistungsüberforderungen in den sekundären Sozialisationskontexten (Kita, vor allem Schule/Studium und Beruf) gehören dazu.
Für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung stellt das soziale Leben, die täglich geforderte Anpassungsleistung, in der Regel immer „Stress“ dar.
Stress (engl. Beanspruchung, Druck) wird in „Eustress“, im Grund die regulierbare und notwendige Beanspruchung, und Distress: (engl. Kummer, Sorge), dem Stress differenziert, der im Sinne des landläufigen „negativen Stresses“ tatsächliche Überlastung und/oder Überforderung meint. Dazu gibt es in der Psychologie vielfältige Modelle.
Wirtz M.A. (2021).(Hrsg.). Dorsch Lexikon der Psychologie. Bern. Hogrefe. S. 1767/1769.
Zur kurz-vereinfachten Illustration wird das transaktionale Stressmodell nach Lazarus verwendet.

Tamling, R. (2019). Die kognitiven Stresstheorien der Pathogenese und Salutogenese von Richard S. Lazarus und Aaron Antonovsky. Independently publish. (German Edition). Kindle-Version. S. 28.
Bei Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung kommt es zu Distress (damit zum Overload), weil es an:
- Bewertungs- und Bewältigungsressourcen (rechter Teil des mittleren Kastens und rechter Kasten) und
- antizipatorisch-kognitiven Fähigkeiten der Neubewertung (unterer Kasten)
mangelt.
Overload wir im Zusammenhang mit einer Autismus-Spektrum-Störung allgemein als Überlastung des neuronal-kognitiv-emotionalen Informationssystems verstanden.
Der basale Overload entsteht in der Regel bereits durch jedwede Umgebungsreize.
Overloads werden durch das permanent-überfordernde „Hintergrundrauschen“ des Alltags produziert. Meist ist es die Reizkulisse: durch viele Menschen, durch Geräusche der Umgebung (Straßenverkehr, die Geräuschkulisse in einem Klassenzimmer oder der Kita-Gruppe), durch Gerüche (Speisen, Blumen, Tabak u.ä.) oder durch jedwede optischen Eindrücke (Objekte des Alltags, zum Beispiel Werbeschilder oder eben viele Menschen). Mit illustrativem Bezug auf die obige Abbildung wäre dies der Bereich des linken Kastens und der linke Teil des mittleren Kastens.
Bereits in den 1980er-Jahren wurden bei autistischen Kindern und Erwachsenen außergewöhnliche Reaktionen auf sensorische Reize beschrieben. Autistische Kinder reagierten entweder zu stark, zu schwach oder gar nicht auf sensorische Stimuli. Wahrnehmungsschwierigkeiten können im Bereich der Diskrimination oder in der Modulation auftreten. Häufig bestehen in beiden Bereichen gleichermaßen Defizite.
Miller, M. (2020). Ergotherapie bei Autismus. Förderung durch sensorische Integrationstherapie. Stuttgart. Kohlhammer. (German Edition). Kindle-Version. S. 31.
Die Ausprägungsmuster variieren individuell in Wahrnehmungsbereichen und Intensitätsempfinden und betreffen folgende Wahrnehmungsbereiche:
- Körperwahrnehmung (Koordination, Raumlage des Körpers) herabgesetzt,
- vestibuläre Wahrnehmung (Gleichgewicht) überempfindlich,
- viszerale Wahrnehmung (Eingeweide/Körperinneres) herabgesetzt,
- taktile Wahrnehmung (Fühlen) überempfindlich,
- auditive Wahrnehmung (Hören) überempfindlich,
- visuelle Wahrnehmung (Sehen) überempfindlich,
- olfaktorische Wahrnehmung (Riechen) überempfindlich,
- gustatorische Wahrnehmung (Schmecken) beides möglich.
Gemeinsam haben fast alle Menschen aus dem Autistischen Spektrum, dass bei ihnen Überempfindlichkeiten bestehen, die sich auf ihr Verhalten, ihre Motorik und ihre kognitiven Funktionen auswirken und einen hohen Leidensdruck verursachen. Häufig bewirken diese Veränderungen vor allem bei Frauen und Mädchen ein defizitäres Selbstbild.
Miller, M. (2020). Ergotherapie bei Autismus. Förderung durch sensorische Integrationstherapie. Stuttgart. Kohlhammer. (German Edition). Kindle-Version. S. 36-37.
Man nimmt an, dass Overloads bei einer Autismus-Spektrum-Störung durch eine mangelnde Reizdiskriminierung (Reize, vielleicht unwichtige, können nicht ausgeblendet/unterdrückt werden) und eine mangelnde Modulation der Reizvielfalt (sinnvolle, im Sinne von anforderungsangepasster Sinnhaftigkeit) entstehen, also einem Mangel an Integration der gesamten Reizwelt (aller o. g. Wahrnehmungsebenen). Es handelt sich bei allen Prozessen um Leistungen des Gehirns und seiner Funktionen.

Miller, M. (2020). Ergotherapie bei Autismus. Förderung durch sensorische Integrationstherapie. Stuttgart. Kohlhammer. (German Edition). Kindle-Version. S. 60.
Overloads gehen mit affektiver Aufladung und Anspannung einher. Regulationsversuche dieses Overloads in erster Instanz werden als „Stimming“ (Selfstimulating behavior) bezeichnet.
Dieses autistische Stimming (in der Szene auch „Stim“ bezeichnet) dient in der Regel der Reizkontrolle (Herabregulieren auf ein verarbeitbares Reizminimum) und Selbstkontrolle, der Aufrechterhaltung der „inneren Ordnung“, der Ableitung der affektiven Aufladung.
Stimming, zwar so nicht benannt, kann aber auch bei Reizmangel auftreten, quasi einem Versuch das System „hoch zufahren“ oder „Systemabschaltung zu verhindern“. Insofern diese Form von Stimming im Zusammenhang mit Hospitalisierung (Deprivation: Entzug der Interaktion, Zustand des Entzugs von Interaktion, soziale Isolation) bekannt ist. Die „schaukelnden Kinder“ in der früheren klassischen Krankenhausbehandlung oder in den Wochenkrippen der DDR sind nur ein Beispiel dafür.
von Rosenberg, F. (2022). Die beschädigte Kindheit. Das Krippensystem der DDR und seine Folgen. München. C.H.Beck.
Autistisches Stimming muss nicht zwangsläufig beobachtbar sein:
Zum Beispiel kann Stimming ein intensives „inneres Beschäftigen“ mit monotonen Denkinhalten sein (zum Beispiel einfaches Zählen, Buchstabieren, Bilden von subjektiven repetitiven „Denkschleifen“), eine Art von Ablenken oder „Abschalten“, auch ein „Abgleiten in eine realitätsferne Traumwelt“ kann dazugehören. Beim „stillen Stimming“ fällt bestenfalls eine Art „Abwesenheit“ auf. Dies bleibt häufig für die Beobachter unbemerkt.
Wenn das Stimming sich in offenen Verhaltensweisen zeigt („expansives Stimming“), unterliegt es einer sozialen Zuschreibung, es wird entweder akzeptiert (man belächelt es vielleicht nur), oder es wird als störend, nervend, auffällig bewertet.
Die „Klassiker“ des autistischen Stimmings sind motorische Stereotypien, sich wiederholende (repetitive) motorische Muster aller Art (zum Beispiel Flattern der Hände, Hin-Her-Bewegungen des Kopfes oder des Körpers in verschiedenen subjektiven Variationen), aber auch vokale „Tics“ (Räuspern, Summen, Pfeifen u.a. Lautbildungen) können dies zum Ausdruck bringen.
In der Regel sind diese beiden „Auffälligkeiten“ fachlich klar von stereotypen Bewegungsstörungen oder Tic-Störungen zu differenzieren oder mögliche kausale Zusammenhänge zu beachten.
Wittchen, H.-U. & Falkai, P. (2018). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5(R). Göttingen. Hogrefe. S. 103 und 108.
Tebartz v. Elst, L. et al. (Hrsg.) (2022). Autismus, ADHS und Tics: Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit. Stuttgart. Kohlhammer.
Aber auch andere Phänomene können Stimming hoch individuell zum Ausdruck bringen, zum Beispiel:
- unspezifische körperliche Anspannungen (Fäuste ballen mit Vibrieren der Arme oder des Körpers oder Verzerrungen/Verspannungen der Gesichtsmuskulatur u.ä.),
- nervöses Klopfen, Zupfen o. ä. Handlungen
- Manierismen (ungewöhnliche, oft langsame körperlich-motorische Bewegungen, ungewöhnliches Verbiegen der Hände und/oder Finger u. ä.),
- selbstmanipulatives bis selbstverletzendes Verhalten (zum Beispiel sich Kratzen, auf die Lippen beißen, Haare ausreißen, Nägel kauen, „Ritzen“).
Kann der Overload aus vielfältigen inneren und äußeren Gründen über das Stimming nicht abgebaut werden, zeigt sich eine Regulation dieses Overloads in zweiter Instanz nach individueller Ausprägung in folgende Richtungen:
- Meltdown – aggressive Entladungen diffuser Art (Wutausbruch), aber auch Aggressionen gegen Personen und Objekte, Selbstverletzung
- Shutdown – absoluter Rückzug und Kontaktabbruch, Abschalten, ein Nichtmehr-ansprechbar-Sein
- Psychoaffektive und/oder psychosomatische Reaktionsbildung (zum Beispiel Depressionen, Ängste, körperlich funktionelle Symptome).