Autismus-Spektrum-Störung nach ICD-11

1. Da die DSM-5® der American Psychological Association für die Klassifikation von Krankheiten in Deutschland nicht verbindlich ist, wird auf diese nicht gesondert eingegangen. Jedoch bietet sie derzeit (Stand Januar 2023) die einzige Möglichkeit, Autismus in seiner Heterogenität (als Autismus-Spektrum-Störung) nach dem wissenschaftlichen Stand klassifikatorisch abzubilden.

Wittchen, H.-U. & Falkai, P. (2018). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5(R). Göttingen. Hogrefe. 

Die „Stärke“ der DSM-5® ist die Möglichkeit, Schweregrade der sozialen Funktionseinschränkungen durch die Autismus-Spektrum-Störung abzubilden, was bezüglich des sozialen Funktionsniveaus im sozialgesetzlichen Kontext von Bedeutung ist.

In der DSM-5® wird auf die Kategorien der ICD-10: Frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und Atypischer Autismus verzichtet.

Die ICD-11 ist zwar seit 01.01.2022 in Kraft, jedoch derzeit noch nicht für die Klassifikation von Krankheiten verbindlich und derzeit (Januar 2023) nur als „frozen version“ vom Mai 2021 im Internet zugänglich.

(„Frozen Version“, Stand Januar 2023) https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http://id.who.int/icd/entity/437815624

2. Insofern gilt für die Klassifikation der Autismus-Spektrum-Störung immer noch die ICD-10 (Stand Januar 2023) aus dem Jahr 1994 und einem Wissenstand zum Autismus aus den 1970er- bis 1980er-Jahren. Dieser Zustand erschwert die fachliche Kommunikation zum Thema (Diagnoseverständnis).

Da die ICD-11 aber zukünftig die Klassifikation des Autismus bestimmen wird, hier bereits ein Einblick.

Es gibt nach derzeitigem Kenntnisstand einige wesentliche Veränderungen:

a. Die Kategorien Frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und Atypischer Autismus werden, analog der DSM-5®, nicht mehr verwendet, insofern die Autismus-Spektrum-Störung als Kontinuum für verschiedene Varianten des Autistischen Syndroms geöffnet wird.

Damit werden auch Stereotype „aufgelöst“, wie ein Autist zu sein hat und Menschen, welche diesen Stereotypen nicht entsprechen, jedoch hohen Leidensdruck und gesellschaftliche Teilhabebedarf haben, bekommen quasi die „Chance“ der Anerkennung „ihres Autismus“.

Es obliegt damit den Diagnostikern, auch sogenannte subsyndromale (scheinbar leichtere) Variationen hinsichtlich ihrer tatsächlichen Auswirkung auf die Funktionsfähigkeit (psychosoziale Beeinträchtigungen, sekundäre psychiatrische Symptome) einzuschätzen.

Insofern mag die neue Kategorie der ICD-11 „soziale (pragmatische) Kommunikationsstörungen“ in dieser Klassifikation keinen Sinn machen. Vielleicht, um mögliche Optionen „leichterer“ Varianten des Autismus-Spektrum-Störung zu kodieren. Dies birgt analog der Kategorie Atypischer Autismus der ICD-10 die Gefahr eines „Sammelbeckens unklarer Fälle“.     

b. Die ICD-11 ermöglicht die „Doppeldiagnose“ Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und Autismus-Spektrum-Störung.

In der ICD-10 wird die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung den Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit zugeordnet (F9), während der Autismus unter tiefgreifende Entwicklungsstörungen zu finden ist (F84).

In der ICD-10 wird ein „gemeinsames“ Auftreten von Autismus und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung gegenseitig ausgeschlossen. 

In der ICD-11 werden beide gemeinsam unter (06) Mentale-, Verhaltens- oder Neuronale Entwicklungsstörungen gelistet, ebenso wie die Tic-Störungen.  Es sind keine ausschließenden Kriterien, wie in der ICD-10, zu finden.

c. Die ICD-11 öffnet die (Kodierungs-) Beschreibungsmöglichkeit von ursächlichen Differenzierungen, die so in der ICD-10 nicht möglich waren.Das Verursachungsverständnis von Autismus in den Kategorien Frühkindlicher Autismus und Asperger-Syndrom war eher ein idiopathisches (keine erkennbaren Ursachen) oder genetisch-transgenerationales.

Die ICD-11 geht nunmehr auch von möglichen erworbenen Verursachungen einer Autismus-Spektrum-Störung aus, insofern die Autismus-Spektrum-Störung in Folge anderer Erkrankungen, welche das Gehirn betreffen oder Erkrankungen, die sich auf das Gehirn und seinen Funktionen auswirken, als Ursachen angenommen werden können.

3. Kritisch sind in der ICD-11 folgende Änderungen zu sehen:

a. Im Gegensatz zur DSM-5® wird keine Mindestanzahl von Beispielsymptomen gefordert, die „erfüllt“ sein sollten, um eine Autismus-Spektrum-Störung zu diagnostizieren.

b. Die Formulierungen der derzeit gelisteten Symptombeispiele scheinen wiederum eher auf beobachtbares Verhalten des Kindesalters zugeschnitten. Veränderte Symptomvarianten des späteren Entwicklungsalters (Erwachsenenalter) werden nicht „treffend“ begrifflich abgebildet. 

c. Zudem scheint die differentielle Aufsplittung der derzeit sieben „Untergruppierungen“ allein in Abhängigkeit von Intelligenz und Sprache zu „kurz gegriffen“.

Zusätzlich wären, analog der DSM-5®, Formulierungen zu Schweregraden der individuellen Funktionseinschränkungen erforderlich gewesen. Aber vielleicht wird hier bis zur verbindlichen Gültigkeit noch nachgebessert.  

4. Eine Autismus-Spektrum-Störung ist nach ICD-11 durch folgende Kriterien und Symptome gekennzeichnet:

Die ICD-11 fasst im Gegensatz zur ICD-10 die Kriterien der verbalen und nonverbalen Kommunikationsprobleme und die der sozialen Beeinträchtigungen der Gegenseitigkeit in der Interaktion zusammen.

6A02 Autismus-Spektrum-Störung (ASS), Autism spectrum disorder (ASD)

(„frozen version“, Stand Januar 2023) https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http://id.who.int/icd/entity/437815624)

Kriterium

  • Anhaltende Defizite bei der Initiierung und Aufrechterhaltung sozialer Kommunikation und wechselseitiger sozialer Interaktionen, die außerhalb des erwarteten Bereiches des typischen Funktionierens liegen, wenn man das Alter und das Niveau der intellektuellen Entwicklung der Person berücksichtigt. Spezifische Manifestationen dieser Defizite variieren je nach chronologischem Alter, verbalen und intellektuellen Fähigkeiten und Schweregrad der Störung. Manifestationen können folgende Einschränkungen beinhalten:

Symptome 

  • Verständnis, Interesse, angemessene Reaktionen auf die verbale oder nonverbale soziale Kommunikation anderer.
  • Integration der gesprochenen Sprache mit typischen komplementären nonverbalen Hinweisen wie Augenkontakt, Gestik, Mimik und Körpersprache. Diese nonverbalen Verhaltensweisen können auch in Häufigkeit oder Intensität reduziert sein.
  • Verstehen und Gebrauch von Sprache in sozialen Kontexten und Fähigkeit, gegenseitige soziale Gespräche zu initiieren und aufrechtzuerhalten.  
  • Soziales Bewusstsein, das zu einem Verhalten führt, das dem sozialen Kontext nicht angemessen angepasst ist.  
  • Fähigkeit, sich die Gefühle, emotionalen Zustände und Einstellungen anderer vorzustellen und darauf zu reagieren. 
  • Gegenseitiges Teilen von Interessen.  
  • Fähigkeit, typische Beziehungen mit Gleichaltrigen aufzubauen und aufrechtzuerhalten.

Kriterium 

  • Anhaltend eingeschränkte, sich wiederholende und unflexible Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die für das Alter und den soziokulturellen Kontext der Person eindeutig untypisch oder übertrieben sind. Dazu können gehören:

Symptome 

  • Mangelnde Anpassungsfähigkeit an neue Erfahrungen und Umstände mit damit verbundenem Leid, das durch triviale Veränderungen einer vertrauten Umgebung oder als Reaktion auf unvorhergesehene Ereignisse hervorgerufen werden kann.  
  • Unflexibles Festhalten an bestimmten Routinen; diese können beispielsweise geografisch sein, wie z. B. das Folgen vertrauter Routen, oder ein genaues Timing erfordern, z. B. Essenszeiten oder Transport.  
  • Übermäßige Einhaltung von Regeln (z. B. beim Spielen).  
  • Exzessive und hartnäckige ritualisierte Verhaltensmuster (z. B. Beschäftigung mit dem Anordnen oder Sortieren von Objekten auf eine bestimmte Art und Weise), die keinem offensichtlichen externen Zweck dienen.  
  • Wiederholte und stereotype motorische Bewegungen, wie Ganzkörperbewegungen (z. B. Schaukeln), atypische Gangart (z. B. Gehen auf Zehenspitzen), ungewöhnliche Hand- oder Fingerbewegungen und Haltungen. Diese Verhaltensweisen treten besonders häufig in der frühen Kindheit auf.  
  • Anhaltende Beschäftigung mit einem oder mehreren besonderen Interessen, Teilen von Objekten oder bestimmten Arten von Reizen (einschließlich Medien) oder eine ungewöhnlich starke Bindung an bestimmte Objekte.  
  • Lebenslange übermäßige und anhaltende Überempfindlichkeit oder Unterempfindlichkeit gegenüber Sinnesreizen oder ungewöhnliches Interesse an einem Sinnesreiz, der tatsächliche oder erwartete Geräusche, Licht, Texturen (insbesondere Kleidung und Lebensmittel), Gerüche und Geschmäcker, sowie Hitze, Kälte oder Schmerz umfassen kann.
  • Die Störung beginnt während der Entwicklungsphase, typischerweise in der frühen Kindheit, aber charakteristische Symptome können sich möglicherweise erst später vollständig manifestieren, wenn die sozialen Anforderungen die begrenzten Fähigkeiten überschreiten.
  • Die Symptome führen zu erheblichen Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. Einige Personen mit Autismus-Spektrum-Störung sind in der Lage, in vielen Zusammenhängen durch außergewöhnliche Anstrengungen angemessen zu funktionieren, so dass ihre Defizite für andere möglicherweise nicht erkennbar sind. Eine Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung ist in solchen Fällen immer noch angebracht.

Differenzierung der Autismus-Spektrum-Störung nach ICD-11

(„frozen version“, Stand Januar 2023) https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http://id.who.int/icd/entity/437815624)

6A02.0 Autismus-Spektrum-Störung ohne Störung der intellektuellen Entwicklung und mit milder oder keiner Beeinträchtigung der funktionellen Sprache

6A02.1 Autismus-Spektrum-Störung mit Störung der intellektuellen Entwicklung und mit milder oder keiner Beeinträchtigung der funktionellen Sprache

(„Autism spectrum disorder with disorder of intellectual development and with mild or no impairment of functional language“)

6A02.2 Autismus-Spektrum-Störung ohne Störung der intellektuellen Entwicklung und mit beeinträchtigter funktioneller Sprache

(„Autism spectrum disorder without disorder of intellectual development and with impaired functional language“)

6A02.3 Autismus-Spektrum-Störung mit Störung der intellektuellen Entwicklung und mit beeinträchtigter funktioneller Sprache

(„Autism spectrum disorder with disorder of intellectual development and with impaired functional language“)

6A02.5 Autismus-Spektrum-Störung mit Störung der intellektuellen Entwicklung und mit Abwesenheit funktioneller Sprache

(„Autism spectrum disorder with disorder of intellectual development and with absence of functional language“)

6A02.Y sonstige spezifizierte Autismus-Spektrum-Störung

(„Other specified autism spectrum disorder“)

6A02.Z nicht näher bezeichnete Autismus-Spektrum-Störung

(„Autism spectrum disorder, unspecified“)