Autismus-Spektrum-Störung in der ICD-11

Die kommende WHO-Klassifikation psychischer Störungen ICD-11 war seit dem 01.01.2022 grundsätzlich einsetzbar, lag aber bisher nur in einer Entwicklungsfassung („frozen version“) in Englisch vor. Wohl aus lizenzrechtlichen Gründen war diese bisher jedoch nicht nutzbar, aus denselben Gründen aktuell auch noch nicht die mittlerweile deutsche Entwurfsfassung der ICD-11 des BfArM (2024):  

Nach derzeitigem Kenntnisstand bedarf es neben lizenzrechtlichem Regelungsbedarf auch noch gewissen Abstimmungsprozessen von Fachgesellschaften bis die ICD-11 verbindlich in Kraft treten kann. Wann dies sein wird, ist derzeit leider noch unklar.

Eine zeitnahe Anpassung an den „state of science“ ist aber dringend erforderlich, weil die aktuell noch geltende WHO-Klassifikation psychischer Störungen nach ICD-10 den sich in den letzten Jahren schnell fortschreitenden Erkenntnisstand zur Spezifik und Heterogenität von Autismus-Spektrum-Störungen nicht mehr abbildet. Dies führt, da der Stereotyp zum Autismus immer noch das Denken und Diagnostizieren bestimmt, zu fachlichen Missverständnissen und für die Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung zu lebenspraktischen Problemen und Nachteilen (zum Beispiel Thema: gesellschaftliche und berufliche Teilhabe).

Auf unserer Homepage hatten wir der Thematik DSM-5® (2018) und ICD-11 („frozen version“) bereits in einer ähnlichen Übersicht aufgegriffen. Die im letzten Jahr (2024) aufgelegte Veröffentlichung:

Hölzel, L. & Berger, M. (Hrsg). ICD-11 psychische Störungen. Innovationen und ihre Bewertungen. Springer.

…, die nunmehr erschienen ist, nehmen wir zum Anlass, „Autismus-Spektrum-Störung“ in der Kategorie neuromentale Entwicklungsstörung der ICD-11 nach aktuellem Stand nochmals überarbeitet vorzustellen.

„Die ICD-11 ist eine von Gund auf erneuerte Klassifikation, die mit vielen strukturellen und inhaltlichen Änderungen in einem wissenschaftlich fundierten Prozess erstellt wurde.“, (Hölzel & Berger, 2024, S. 12).

1.
Neuromentale Entwicklungsstörungen, die sich in der Regel ab der 1. Lebensdekade manifestieren, wurden im Vergleich zur ICD-10 in der ICD-11 erstmals eingeführt und als 1. Kategorie allen anderen psychischen Störungen vorangestellt. Dieser Kategorie ist auch die Autismus-Spektrum-Störung zugeordnet

Neuromentale Entwicklungsstörungen in der ICD-11 (Hölzel & Berger, 2024; S. 53)

Code              Bezeichnung

6A                   Neuromentale Entwicklungsstörungen

6A00               Störungen der Intelligenzentwicklung (SI)

6A01               Störungen der Sprech- und Sprachentwicklung

6A02              Autismus-Spektrum-Störung (ASS)

6A03               Lernentwicklungsstörung

6A04               Entwicklungsstörungen der motorischen Koordination

6A05               Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

6A06               Stereotype Bewegungsstörung

8A05.0*          Primäre Tics oder Tic-Störungen*

6E60*              Sekundäres neuronales Entwicklungssyndrom*

* Crosslink (primär einer anderen Kategorie zugeordnet)

2.
Die ICD-11 kann, wie bei jeder Änderung, in kritischer Diskussion mit „Vorteilen“ und Nachteilen“ gegenüber der nunmehr traditionell gewordenen ICD-10 gedacht werden. Welche grundlegenden Änderungen in der ICD-11 zur Autismus-Spektrum-Störung zu finden sind, wird hier kurz dargestellt:

a. Es wird, analog der DSM-5®, die klassifikatorisch kategorialen Subtypen Frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und Atypischer Autismus nicht mehr geben. Den Erkenntnissen empirischer Längsschnittforschung folgend kann zwischen diesen Entitäten nicht mehr sicher differenziert werden (Biscaldi et al. 2023; Tebratz v. Elst 2023).

Mit der Autismus-Spektrum-Störung kommt die Heterogenität unterschiedlicher Ausprägungsgrade des Autistischen Syndroms hinsichtlich quantitativer und qualitativer Aspekte in individuellen Varianten zum Ausdruck, insofern diesen ein Kontinuum zugrunde gelegt wird.

b. Die autistischen Kernbereiche der ICD-10:

(1)​ Qualitative Beeinträchtigungen in der zwischenmenschlichen Interaktion,

(2)​ Qualitative Beeinträchtigungen in der Kommunikation

werden in der ICD-11 zum 1. Hauptkriterium „Anhaltende Defizite bei Initiierung und Aufrechterhaltung sozialer Kommunikation und sozialer Interaktionen“ zusammengefasst. Nach DSM-5® entspricht dies dem Kriterium A.

Der dritte autistische Kernbereich in der ICD-10:

(3) Eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten (Tröster & Lange, 2019)

wird in der ICD-11 als 2. Hauptkriterium (DSM-5® Kriterium B.): Anhaltende, sich wiederholende und unflexible Wahrnehmungs-, Interessen- und Aktivitätsmuster zusammengefasst. Ergänzt wird dies durch sensorische Hypo- und Hypersensibilitäten (APA, 2013: atypische sensorische Verarbeitung). Günstig wäre es gewesen, den ebenfalls in der APA 2013 zu findenden Wortlaut „Bedürfnis nach Gleichheit“ aufzunehmen, weil dadurch insbesondere die autistische Spezifik des Reiz- und Aufmerksamkeitsmanagements und daraus folgender Ordnungen und Routinen treffender beschrieben worden wäre. Gleiches gilt für autistische Just-Right-Phänomene in Abgrenzung zum „klassischen“ Zwang.

Kriterien der Autismus-Spektrum-Störungen in ICD-11 (Modifiziert nach: Tebartz van Elst & Ebert in Hölzel & Berger, 2024, S. 62 und 63) 

  1. Anhaltende Defizite bei Initiierung und Aufrechterhaltung sozialer Kommunikation und sozialer Interaktionen, die in Anbetracht von Alter und intellektuellem Entwicklungsniveau außerhalb des erwarteten Bereichs liegen.
    Spezifische Manifestationen dieser Defizite variieren je nach chronologischem Alter, verbalen und intellektuellen Fähigkeiten und Schweregrad der Störung und können Einschränkungen in den folgenden Bereichen umfassen:
  • Verständnis, Interesse oder angemessene Reaktionen auf die verbale oder nonverbale soziale Kommunikation anderer
  • Integration gesprochener Sprache mit typischen komplementären nonverbalen Hinweisen wie Blickkontakt, Gestik, Mimik und Körpersprache. Diese nonverbalen Verhaltensweisen können auch in Häufigkeit oder Intensität reduziert sein
  • Verständnis und Gebrauch von Sprache in sozialen Kontexten und Fähigkeit, wechselseitige soziale Gespräche zu initiieren und aufrechtzuerhalten
  • Soziales Bewusstsein, das zu einem Verhalten führt, das dem sozialen Kontext nicht angemessen angepasst ist
  • Fähigkeit, sich Gefühle, emotionale Zustände und Einstellungen anderer vorzustellen und darauf zu reagieren
  • Wechselseitige Interessenteilung
  • Fähigkeit, typische Peer-Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten
  1. Anhaltende eingeschränkte, sich wiederholende und unflexible Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die für das Alter und den soziokulturellen Kontext des Individuums eindeutig atypisch oder übertrieben sind. Dazu können gehören:
  • Mangelnde Anpassungsfähigkeit an neue Erfahrungen und Umstände mit damit verbundenem Stress, der durch triviale Veränderungen in einer vertrauten Umgebung oder als Reaktion auf unvorhergesehene Ereignisse hervorgerufen werden kann
  • Unflexible Einhaltung bestimmter Routinen, z. B. räumlich oder die ein genaues Timing erfordern
  • Übermäßige Einhaltung von Regeln (z. B. beim Spielen)
  • Übermäßige und anhaltende ritualisierte Verhaltensmuster (z. B. Aufstellen oder Sortieren von Objekten), die keinem offensichtlichen äußeren Zweck dienen
  • Repetitive und stereotype motorische Bewegungen, wie Ganzkörperbewegungen, atypischer Gang, ungewöhnliche Hand- oder Fingerbewegungen und Haltungen. Diese Verhaltensweisen treten besonders häufig in der frühen Kindheit auf
  • Beharrliche Beschäftigung mit speziellen Interessen, Objektteilen oder bestimmten Arten von Reizen (einschließlich Medien) oder ungewöhnlich starke Bindung an bestimmte Objekte
  • Lebenslange übermäßige und anhaltende Überempfindlichkeit oder Hyposensitivität für sensorische Reizen oder ungewöhnliches Interesse an einem sensorischen Reiz
  1. Beginn der Störung während der Entwicklungsphase, typischerweise in der frühen Kindheit, charakteristische Symptome können sich später vollständig manifestieren, wenn sozialen Anforderungen die begrenzten Fähigkeiten überschreiten
  1. Die Symptome führen zu erheblichen Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, pädagogischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. Einige Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung sind in der Lage, in vielen Kontexten durch außergewöhnliche Anstrengungen angemessen zu funktionieren, so dass ihre Defizite für andere möglicherweise nicht offensichtlich sind. Eine Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung ist in solchen Fällen immer noch angebracht.

3.
a. Die ICD-11 setzt ein klinisches Umdenken voraus, dass sich von definierten Unterkategorisierungen (ICD-10) löst, bei denen unter Beachtung von Altersschwellen definierte Kriterien in einer benannten Anzahl von Symptomen vorliegen müssen, um daraus eine dieser Störung (zum Beispiel Frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom) zu identifizieren.

Der Atypische Autismus in der ICD-10 ist ein durchaus problematischer Kategorie-Typ, bei dem inkomplette autistische Symptomgruppierungen, altersweichende Auftrittsspannen subsummiert werden konnten. Was häufig nicht beachtet wurde, war die Spezifizierung, dass klassifikatorisch davon ausgegangen wurde, dass diese atypische Kategorie des Autismus am häufigsten bei schwerst intelligenzgeminderten und sprachlich entwicklungsverzögerten Personen festzustellen ist (ICD-10, 2015; S. 347).

b. Insofern im Verständnis von Autismus-Spektrum-Störung ein Kontinuum von spezifischen Symptomen in deren individuell variierender Phänomenologie, Symptomkombinationen und Symptomschwere zugrunde gelegt wird, welche die Wirklichkeit der Heterogenität der Autismus-Spektrum-Störung, deren individuellen Variantenreichtum, besser abbildet und entsprechender subjektiver Leidensdruck und soziale Funktionseinschränkungen präziser nachvollziehbar sind.

Die damit verbundene unscharfe Operationalisierung, die auf einer Art „Matching-Prozess“, insofern einer globalen Fallbewertung basiert, legt aber auch „pseudogenaue Diagnoseschwellen“ (Bach & Simonsen, 2025, S. 20 – 21) zugrunde, so dass die Gefahr bestehen kann, dass die Spezifik des diagnostischen Konzeptes der Autismus-Spektrum-Störung „verloren gehen kann“ (Tebartz v. Elst, 2012, Tebartz v. Elst, 2023).

Basale diagnostische Kriterien zur Störungsbestimmung

Inhaltlich werden in der ICD-11 die Besonderheiten der sozialen Kognition und Kommunikation dem DSM-5 folgend im 1. Hauptkriterium (A-Kriterium nach DSM-5®) und die der anhaltenden unflexiblen und stereotypen Wahrnehmungs-, Interessen- und Aktivitätsmuster, sensorische Besonderheiten im Sinne von Hypersensitivitäten oder Hyposensitivitäten im 2. Hauptkriterium (B-Kriterium nach DSM-5®) beschrieben.

Für die globale Fallbewertung einer Störungsqualität kann weiterführend, und die o.g. „diagnostische Gefahr“ minimierend bzw. ausschließend, sich weiterhin der Klassifikation DSM®-5 bedient werden:

Ein phänotypisches Autistisches-Spektrum besteht aufgrund der neurobiologischen Verursachung in der Regel seit der Geburt. Eine offensichtlich krankheitswertige Qualität (Autismus-Spektrum-Störung) entsteht erst dann, wenn soziale Anforderungen die Kompensationsmöglichkeiten des autistischen Systems überschreiten (DSM-5®, Kriterium C) und dadurch in klinisch bedeutsamer Weise a. subjektives Leiden und/oder b. Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verursacht werden (DSM-5®, Kriterium D).

Die ICD-11 fast dies (siehe oben) unter Ausschluss des subjektiven Leidensdruckes wie folgt zusammen: Die Symptome führen zu erheblichen Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, pädagogischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

c. Autismus-Spektrum-Störungen sind neurobiologisch bedingte Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung (Autismus Deutschland e.V., 2022), insofern die individuelle Anpassungs- und Stressregulation, das komplexe Reiz- und Aufmerksamkeitsmanagement und damit die Funktionsfähigkeit in persönlichen, familiären, sozialen, pädagogischen, beruflichen oder anderen wichtigen Kontexten auch und im Besonderen von entwicklungspsychologisch relevanten externen Anforderungen determiniert wird.

Variierende Umweltkontexte (Personen, die Art und Strukturen von Leistungsanforderungen, lebensgeschichtliche Übergänge zum Beispiel) beeinflussen insofern auch die Varianz der Phänomenologie einer Autismus-Spektrum-Störung, was bei diagnostischen Abwägungen (globalen Fallbewertung) zu beachten wäre.

d. Es ist den kritischen Anmerkungen von Hölzel & Berger (2024, S. 60) zuzustimmen, dass Indikatoren des autistischen Stresses nicht mit aufgenommen wurden, welche sich durch Zustände der Reizüberflutung („Overload“) erkennen lassen, wie zum Beispiel „dissoziatives Aus-dem-Kontakt-Gehen“ („Shut-down“), bis hin zu dissoziativen Episoden, motorischen Stereotypien zur Anspannungsregulation (Schaukeln) oder auch selbstverletzenden Verhaltensweisen und Wutattacken („Melt-down“). Ergänzend zu dissoziativen Episoden sollten durchaus, in der Praxis häufiger beobachtbar, auch psychosenahe Phänomene nicht vergessen werden.  

4.
Ätiopathogenetisch wird auch in der ICD-11, wie in der DSM-5®, von einer heterogenen Verursachungskonstellation ausgegangen. Empirische Befunde weisen darauf hin, dass ein erhebliches genetisches Risiko besteht (Tick et al, 2016). Circa 74 bis 93 Prozent der Autismus-Spektrum-Störungen können eine multigenetische Genealogie haben. Die Prävalenz bei Geschwistern liegt bei 10 bis 20 Prozent (Hofer & Fellinger, 2022). Diese Verursachungskonstellation wird als „angeborene“ bzw. „idiopathische“ oder „primäre“ Variante der Autismus-Spektrum-Störung verstanden (ICD-11, 6A02).

In der Konzeptionalisierung der ICD-10 waren alle kategorialen Typen des Autismus in diesem Verständnis primäre Formen des Autismus. Hier bediente man sich der Begrifflichkeit „idiopathischer“ Autismus häufiger, insofern dieser meint, dass Ursachen nicht nachgewiesen werden können.

In der ICD-11, wie auch schon in der DSM-5®, unterscheidet man von primären Varianten der Autismus-Spektrum-Störung die „erworbenen“ oder „syndromatischen“ bzw. „sekundären“ Varianten der Autismus-Spektrum-Störung (ICD-11, 6E60), die in Folge einer anderen genetischen Störung oder Systemerkrankung/Schädigung auftreten können.

5.
Der Vorteil der ICD-11, so auch unsere praktischen Erfahrungen, besteht in dieser grundsätzlich veränderten Konzeptionalisierung darin, dass die individuellen Varianzen besser herausgearbeitet und in die diagnostisch globale Gesamtbewertung einfließen können, wie:

  • Autismus-Spektrum-Störung im Erwachsenenalter (Riedel & Clausen, 2020),
  • geschlechtsspezifische Unterschiede, der „weibliche Phänotyp“ (Lai & Baron-Cohen, 2015; Bargiela et al., 2016),
  • „Tarnmechanismen“ (Hull et al., 2017; Fombonne, 2020).

Dies alles abzubilden, ist mit den Kategorien der ICD-10: Frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom, atypischer Autismus nicht möglich.

6.
Auch die Abgrenzung des klinisch relevanten Autismus-Spektrums zu den sogenannten „Normalvarianten“ wird in der ICD-11 ausdrücklich betont (Hölzel & Berger, 2024; S. 65). In der Literatur wird dies unter dem Begriff des „Broader Autism Phenotype“ (Tebartz v. Elst, 2023) zusammengefasst. Insofern gerade bei Verwandten der genetischen Varianten überzufällig häufig autistische Charaktermerkmale ohne klinische Relevanz festzustellen sind. Ebenso überzufällig häufiger treten komorbid Varianten der neuromentalen Entwicklungsstörung Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung auf.

7.
Varianten der Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung werden mit der Einführung der neuromentalen Entwicklungsstörungen in der ICD-11 nicht mehr den Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend, ICD-10 (2015, S. 355) zugeordnet und sind ausdrücklich kein Ausschlusskriterium mehr, ebenso wie die Tic-Störungen.

Insofern „Doppeldiagnosen“, Autismus-Spektrum-Störung und Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung, möglich sind, was ebenso den Stand der neueren Erkenntnisse abbildet, wonach rund 70 % der Betroffenen mit einer Autismus-Spektrum-Störung auch ein Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom haben und umgekehrt liegt bei ca. 13 % der Betroffenen mit einer Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung auch eine Autismus-Spektrums-Störung vor (Feinhofer, Kothgassner & Klier, 2019).

8.
Kritisch wird angemerkt, dass die in der ICD-11 zu bewertende Bereiche in der vorliegenden Formulierung der o.g. vorläufigen deutschen Entwurfsfassung im Wortlaut an verschiedenen Stellen eher noch zu sehr das Beobachtungsniveau männlicher Kinder abbilden, was weiterführend zur prinzipiellen Thematik der Autismusdiagnostik führt.

Diese orientiert sich bei den herkömmlichen Standardverfahren (zum Beispiel ADOS-2) im Schwerpunkt auf den männlichen Phänotyp. Insofern auch die vorliegenden diagnostischen Verfahren zur Autismus-Spektrum-Störung in ihrer Aussagekraft eingeschränkt sind, wenn es sich um die Differenzierung einer Autismus-Spektrum-Störung zum Beispiel bei weiblichen Betroffenen (unabhängig vom Alter) und vor allem bei Erwachsenen handelt (Tebartz van Elst, 2009).

Aufgrund mangelnder Forschungslage kann derzeit nicht differenziert werden, ob die konsistente Beobachtung niedrigerer autismusspezifischer Werte von Autistinnen in den derzeit zur Verfügung stehenden Testverfahren (ADOS-2) tatsächlich geringere Ausprägungen dieser Merkmale repräsentieren oder diese von den Messinstrumenten nicht sensibel genug erfasst werden (van Wjingaarden-Cremers et al., 2014).

Insbesondere finden zum Beispiel auch Effekte von Tarnmechanismen in den diagnostischen Verfahren keine entsprechende Beachtung und führen (unabhängig vom Geschlecht) eher zu niedrigerer autismusspezifischer Werten. Hier bedarf es in nächster Zeit erheblicher Forschungsanstrengungen.

9.
a. Ein weiterer Kritikpunkt an der ICD-11 ist, dass im Gegensatz zur DSM-5® die Einschätzung der Schweregrade der durch die Autismus-Spektrum-Störung generierten Funktionseinschränkungen nicht möglich ist.

Mit der Differenzierung des Intelligenz- und Sprachniveaus wir lediglich die Typisierung der Autismus-Spektrum-Störung vorgenommen:

Klassifikation der Autismus-Spektrum-Störung in der ICD-11 (Hölzel & Berger, 2024; S.59)

CodeBezeichnung
6A02.0Autismus-Spektrum-Störung ohne Störung der Intelligenzentwicklung, mit leichtgradiger oder keiner Beeinträchtigung der funktionellen Sprache
6A02.1Autismus-Spektrum-Störung mit Störung der Intelligenzentwicklung, mit leichtgradiger oder keiner Beeinträchtigung der funktionellen Sprache
6A02.2Autismus-Spektrum-Störung ohne Störung der Intelligenzentwicklung, mit Beeinträchtigung der funktionellen Sprache
6A02.3Autismus-Spektrum-Störung mit Störung der Intelligenzentwicklung, mit Beeinträchtigung der funktionellen Sprache
6A02.5Autismus-Spektrum-Störung mit Störung der Intelligenzentwicklung, Fehlen der funktionellen Sprache
6A02.YSonstige näher bezeichnete Autismus-Spektrum-Störung
6A02.ZAutismus-Spektrum-Störung, nicht näher bezeichnet

b. In der DSM-5® erfolgt diese Typisierung der Autismus-Spektrum-Störung auch über die Bestimmung des Intelligenz- und Sprachniveaus (DSM-5®, 2018; S. 65). Zusätzlich können aber auch Schweregrade für Einschränkungen der sozialen Kommunikation und der Schwere der restriktiv, repetitiven Verhaltensweisen festgelegt werden (DSM-5®, 2018; S. 67).

In beiden Klassifikationen (DSM-5® und ICD-11) fehlt jedoch die vor allem sozialrechtlich relevante Bestimmung des sozialen Funktionsniveaus, also der Auswirkungen der Autismus-Spektrum-Störung auf das soziale Gesamtfunktionsniveau.

Wenn dies diagnostisch klassifiziert werden würde, könnten die „schwammigen Beschreibung“ der „mittleren“ oder „schweren“ Anpassungsschwierigkeiten zur Feststellung des Grades der Behinderung (GdB, VersMedV, 2008) spezifiziert werden.

c. Nun mag dies mit der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (WHO ICF, 2005, Version 5), die auch für das Kindes- und Jugendalter (ICF-CY, 2007) vorliegt und im Kontext der ICD-11 hochwahrscheinlich auch in Überarbeitung ist, möglich sein.

Entsprechende Core-Sets für Autismus-Spektrum-Störung vom Kindesalter bis zum Erwachsenenalter liegen vor (Bölte et al., 2019; Seidel, Schneider & Steinborn, 2021), folgen jedoch einem eher überregulierten Bewertungssystem, das mit hoher Wahrscheinlichkeit in seiner Differenzierungsbreite von verantwortlichen Stellen des sozial-medizinischen Systems nur schwer nachvollziehbar ist. Insofern die aufwendige Erstellung solcher Core-Sets oftmals nicht die entsprechende sozialrechtliche Würdigung erfährt.

10.
Literatur

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Bölte, S. et al. (2019). The Gestalt of functioning in autism spectrum disorder: Results of the international conference to develop final consensus International Classification of Functioning, Disability and Health core set. Autism. 23(2). 449–467. Published online 2018 Jan 29. doi: 10.1177/1362361318755522. (https://us.sagepub.com/en-us/nam/open-access-at-sage).

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Tebartz van Elst, L. (2023). Autismus, ADHS und Tics: Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit (German Edition). Kohlhammer Verlag. Kindle-Version.

Tick, B., Bolton, P., Happe, F. et al. (2016).  Heritability of autism-spectrum-disorders: a meta-analysis of twin studies. J Child Psychol Psychiatry Allied Discip 57(5):585–595. 5. Myers SM, Challman

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